Zugang zu Bildung für alle
Obwohl alle ein Recht auf Zugang zu Bildung haben, sind Unterrichtsmaterialien in Papier- oder digitaler Form nicht (standardmässig) zugänglich für Lernende mit Sehbehinderung. Inklusive Bildung zählt jedoch zu den Entwicklungszielen der Agenda 2030 der UNO.
Von Maximiliano Jeanneret Medina, Cédric Baudet und Cédric Benoit, Forscher am Institut für Digitalisierung der Haute Ecole de Gestion (HEG) Arc.
In den Industrieländern gibt es zwar auf Barrierefreiheit spezialisierte Bearbeitungsdienste, die die Lernenden während ihrer Schulzeit unterstützen können. Allerdings ist die Produktion barrierefreier Inhalte zeitaufwändig, und es wird immer schwieriger, die grosse Nachfrage innerhalb nützlicher Frist befriedigen zu können. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie sehbehinderte Lernende im Bildungskontext von den neusten digitalen Technologien profitieren können.
Bildungsangebote und digitale Technologien, die den Bedürfnissen von sehbehinderten Lernenden gerecht werden
Es werden zwar immer mehr Dokumente als Audiodatei oder in Brailleschrift angeboten, doch paradoxerweise erhalten Menschen mit Sehbehinderung nach wie vor am häufigsten Textdokumente in elektronischer Form. Eine in der Schweiz, Deutschland und Österreich durchgeführte Studie zeigt, dass die Betroffenen mit dem Lesen von Textdokumenten unzufrieden sind, und alle Befragten schon Dokumente erhalten haben, die für sie nicht zugänglich waren. Nehmen wir den konkreten Fall von Schulbüchern, die von Verlagshäusern verfasst und herausgegeben werden. Diese Schulbücher in Papierform enthalten oft mehrspaltig angeordnete Informationen, dekorative Bilder ohne pädagogischen Nutzen und Schriftarten, die man nett ausgedrückt als ausgefallen bezeichnen kann. Für Lernende mit einer Sehschwäche ist es nicht oder nur schwer möglich, bei solchen Schulbüchern im PDF-Format die verschiedenen Schriften auf dem jeweiligen Hintergrund zu entziffern. Und wenn sie ein Lesegerät verwenden, kann es passieren, dass sie die Inhalte unstrukturiert und in einer nicht logischen Reihenfolge lesen oder erfassen. Das erste Problem kann auf die ungeeignete Formatvorlage zurückgeführt werden, und das zweite hat mit den technischen Einstellungen im Zusammenhang mit der Wiedergabereihenfolge der Inhalte zu tun. Mit der Digitalisierung von gedruckten Unterrichtsmaterialien, das heisst mit einer blossen Formatänderung, sind die Probleme hinsichtlich Barrierefreiheit somit noch nicht gelöst.
Die UNO hat sich für 2030 zum Ziel gesetzt, für alle Menschen inklusive, chancengerechte und hochwertige Bildung sowie Möglichkeiten zum lebenslangen Lernen sicherzustellen. Um dieses Ziel zu erreichen, arbeiten zahlreiche private und öffentliche Akteure am Design, das heisst an der Gestaltung von Unterrichtsmaterialien. Dank dem Ansatz von Universal Design for Learning (UDL) können alle Lernenden, unabhängig von ihrer Beeinträchtigung, von barrierefreien Unterrichtsmaterialien profitieren. Diese werden in unterschiedlichen barrierefreien Formaten wie Hördateien, Videos in Gebärdensprache, Audiodeskriptionen von Bildern usw. erstellt. In den USA wurde dieses Konzept bereits in der Ausbildung von Lehrkräften und Verwaltungspersonal an einer Universität umgesetzt. Unicef hat in jüngerer Zeit zahlreiche Pilotprojekte unterstützt, die zum Ziel haben, barrierefreie digitale Schulbücher zu gestalten (https://www.accessibletextbooksforall.org/universal-design-learning). In der Westschweiz kümmert sich das Zentrum für technische Adaption und Barrierefreiheit (CTAA) des CPHV um die Anpassung aller Arten von Unterrichtsmaterialien, damit diese für Menschen mit Sehbehinderung und unter anderem auch für Lernende mit Teilleistungsschwächen zugänglich werden. Selbst führende IT-Unternehmen unterstützen diesen integrativen Ansatz. So bietet Microsoft mit dem Plastischen Reader (https://www.microsoft.com/de-de/education/products/learning-tools) ein in seine Softwarelösungen integriertes Tool zur Unterstützung im Unterricht. Mit diesem Tool können Lernende die visuelle Darstellung eines Dokuments anpassen, indem sie z. B. Hintergrund- oder Textfarbe und Schriftgrösse ändern. Weiter können sie sich Inhalte auch laut vorlesen lassen. All diese Initiativen haben eines gemeinsam: Sie leisten Adaptionsarbeit. Ferner bieten heute aber auch verschiedene Arten von künstlicher Intelligenz (KI) neue Möglichkeiten.
Nehmen wir das maschinelle Lernen (machine learning). Dabei handelt es sich um eine Form der künstlichen Intelligenz, die auf mathematischen und statistischen Ansätzen beruht und darauf abzielt, Computern die Fähigkeit zu verleihen, aus Daten zu lernen. So kommen zum Beispiel bei autonomen Fahrsystemen einiger Fahrzeuge neuste Machine-Learning-Technologien zum Einsatz. Und auch wenn ein Online-Formular ein Captcha enthält, bei dem ein/-e Anwender/-in alle Bilder mit Ampeln oder Zebrastreifen markieren soll, wird im Hintergrund eigentlich eine künstliche Intelligenz darauf trainiert, Objekte auf öffentlichen Strassen zu erkennen.
Künstliche Intelligenz zur Unterstützung von Fachpersonen Transkription/
Adaption und von Lernenden mit Sehbehinderung
Drei Forscher an der HEG Arc arbeiten gemeinsam mit den Fachpersonen Transkription/Adaption des CTAA an einem Projekt zur Entwicklung einer Lösung für die automatische Schulbuchkonvertierung. Im Rahmen dieses Projekts wird versucht, mittels künstlicher Intelligenz die Tätigkeit von Fachpersonen Transkription/Adaption nachzuahmen. In einer ersten Phase wollte man diese Fachpersonen in ihren zeitaufwändigen manuellen Bearbeitungstätigkeiten unterstützen. In einer zweiten Phase soll diese KI-Lösung weiter verbessert und dann auch direkt Lernenden mit Sehbehinderungen zur Verfügung gestellt werden. Damit sollen diese in der Lage sein, selbstständig zu Hause oder sogar im Klassenzimmer zugängliche Inhalte zu generieren. An diesem Projekt sind Lernende mit Sehbehinderungen, Fachpersonen Transkription/Adaption, Heilpädagog/-innen und Spezialist/-innen im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) beteiligt. Um zu funktionieren, muss ein solches sogenannt lernendes System mit einer Vielzahl von Adaptions-Beispielen gespeist werden. Die Nutzung des maschinellen Lernens, um einen barrierefreien Zugang zu digitalen Dokumenten zu ermöglichen, steckt jedoch noch in den Kinderschuhen. Eine der Schwierigkeiten besteht darin, eine Lerndatenbank mit mehreren Tausend Beispielen aufzubauen.
In den vergangenen zehn Jahren wurden zwar bei der Verbesserung der Zugänglichkeit digitaler Inhalte grosse Fortschritte erzielt, doch es bleibt noch viel zu tun. Es geht nun vor allem darum, bewährte Konzepte mit neuen Technologien zu kombinieren, mit denen wir kaum Erfahrung haben. Auf dem Weg zu einer inklusiven Bildung werden wir noch mit zahlreichen Herausforderungen sowohl menschlicher als auch technischer Natur konfrontiert sein.