Zeigen, dass man schlecht sieht: Welch eine Erleichterung!
Ein Erfahrungsbericht
Von Francisco Rodriguez
Meine Kindheit war sorglos. Ich machte die Matura, daraufhin folgte ein Sprachstudium an der Universität und anschliessend eine pädagogische Ausbildung. Meine Karriereschritte waren stets sorgfältig geplant. Ich war Mitglied in zahlreichen Kommissionen und habe mehrere Weiterbildungen absolviert. Dann wurde ich sehbehindert.
1998 treten die ersten Probleme auf. Meine Augenärztin entdeckt bei einer Kontrolluntersuchung Flecken auf meiner Netzhaut und überweist mich für weitere Abklärungen an die Augenklinik in Lausanne. Dort wird mir allmählich klar, dass etwas los ist, denn zehn bis fünfzehn Studierende können es kaum erwarten, einen Blick auf meine Netzhaut zu erhaschen. Der Arzt sagt zu mir: «Ich kann nichts für Sie tun. Achten Sie darauf, dass Sie nicht zu stark ins Licht schauen und tragen Sie eine Mütze. » Das war alles! Ich verlasse die Klinik mit Gefühlen der Angst und Ohnmacht. Aus Angst vor dem Unbekannten folgt eine Phase der Depression. Glücklicherweise ruft mich meine bisherige Augenärztin einige Tage später an, um den Fall zu besprechen. Sie erklärt mir, dass ich unter Retinitis pigmentosa leide: Bei dieser Krankheit schränkt sich das Gesichtsfeld ein und erhöht sich die Lichtempfindlichkeit stark. Umgehend informiere ich meine Familie und meine Angehörigen.
Auf der Arbeit brauche ich immer mehr Zeit. Nach dem Abendessen arbeite ich zuhause weiter und ignoriere meine Familie immer mehr, um beruflich weiter zu kommen. Diese Lebensweise ist natürlich für niemanden zufriedenstellend. Ich werde müde, moralisch und physisch. Mein Arzt entscheidet, mir Anti-Depressiva zu verschreiben. Bei der Arbeit bin ich verschlossen und arbeite nicht mit meinen Kollegen und Kolleginnen zusammen. Ich finde Entschuldigungen, um nicht mehr an Sitzungen und Exkursionen teilnehmen zu müssen. Mehrere Mandate lehne ich ab.
Im Jahr 2007 breche ich mir den Fuss. Was für ein Glücksfall! Ich beantrage einen unfallbedingten Urlaub von Oktober bis Dezember. Die Schulleitung wundert sich: Warum so ein langer Urlaub? Januar 2008 arbeite ich wieder 100% und langsam verstehe ich, dass ich etwas unternehmen muss. Wenige Monate später stehe ich am Rande eines Burn-outs und suche die Augenklinik erneut auf. Der Professor, an den ich mich wende, fragt mich, wie mein Alltag verläuft. Er schlägt mir vor, 50% zu arbeiten. Nach diesem Gespräch wende ich mich voller Sorge an meinen Arbeitgeber und erkläre ihm, dass ich nicht mehr 100% arbeiten kann. Zu meiner grossen Überraschung fühle ich mich sofort verstanden! Ich bin sehr erleichtert nach dem Gespräch. Mein Entschluss steht fest, sämtliche Kollegen und Kolleginnen über meine Behinderung zu informieren. Die meisten sagen: «Ach, das ist der Grund! » Sie hatten natürlich bemerkt, dass etwas nicht stimmte. Im August 2008 kehre ich voller Elan zur Arbeit zurück und stelle eine grosse Veränderung in meinem Alltag fest. Ich habe auf einmal Zeit – für mich, meine Familie und meine Arbeit – und kann wieder soziale Kontakte pflegen.
Dennoch bin ich ständig müde. Ich entscheide mich, die IV-Stelle zu kontaktieren. Sie vermittelt mir einen Kontakt bei der Neuenburger Beratungsstelle Centrevue. In den drei folgenden Tagen treffe ich einen Ergotherapeuten und eine Sozialarbeiterin. Mit ihrer Unterstützung – und nicht mehr alleine – unternehmen wir die nötigen administrativen Schritte bei der IV. Der Ergotherapeut zeigt mir zahlreiche Hilfsmittel und Tricks, die ich noch nicht kannte, zum Beispiel beim Einsatz von Filtern oder bessere Kontraste. Ich finde eine ganze Reihe von Hilfsmitteln, die ich bei der Arbeit anwenden kann. In der Schule wird ein Klassenzimmer «Espace Rodriguez» getauft und speziell für mich angepasst, mit Beleuchtung, Rollos, etc. Das grosse Problem ist die Informatik. Man kann das Programm Zoomtext nicht auf sämtlichen Computern in der Schule installieren. Daher bekomme ich einen Laptop, den ich immer mitnehme. Ich sage stets: «Nimm, was man dir gibt». Weitere Anpassungen bei der Arbeit folgen. Während Prüfungen hilft mir eine Person, die Schüler und Schülerinnen zu überwachen. Bei langen Arbeitstagen habe ich Anrecht auf Pausen. Mit der Unterstützung von Centrevue sensibilisiere ich meine Schüler und Schülerinnen für das Thema Sehbehinderung, und die jungen Menschen zeigen grosses Verständnis.
Nach der Einführung all dieser Massnahmen fühle ich mich wieder viel besser. Ich habe den Eindruck, dass mein Leben wieder neuen Schwung bekommen hat. Im Jahr 2009 anerkennt die IV meine Sehbehinderung, und bis 2013 geniesse ich ein ruhiges Leben. 2013 bitte ich um ein Arbeitspensum von 25%, da die Krankheit weiter fortgeschritten ist. Als ich dies meinem Arbeitgeber mitteile, überrascht mich die Antwort sehr. Der Kanton Neuenburg schreibt vor, dass Personen, die eine Vollrente von der IV beziehen, nicht arbeiten dürfen. Daher wird mit gekündigt, worauf ich anfange, dafür zu kämpfen, arbeiten zu dürfen. Nach einiger Zeit habe ich Erfolg. Ich werde zwar als Beamter entlassen, aber es gelingt mir, mich mit einem privatrechtlichen Vertrag wieder anstellen zu lassen. Diese Lösung besteht seit August 2015. Ich arbeite 25% und bin jetzt nicht mehr so verzweifelt. In den nächsten Jahren kann ich etwas aus meinem Leben, vor allem aber aus dem Augenblick, machen. Denn: «Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für das Auge unsichtbar», sagt Saint-Exupéry.