„Wir müssen unsere Stimme erheben“
Wie Menschen mit Blindheit und Sehbehinderung konkrete Verbesserungen der Hindernisfreiheit im öffentlichen Raum erreichen, zeigen drei Gespräche: Maria Rita Oddo, Marianne Kellerhals und Stephan Hüsler haben sich gegen Hindernisse zur Wehr gesetzt, denen sie auf ihren täglichen Wegen begegnen. Mal mit schnellem Erfolg, mal mit viel Geduld oder öffentlichem Druck konnten sie einiges bewegen.
Die Interviews führte Nina Hug
Maria-Rita Oddo ist blind. Auf ihrem neuen Arbeitsweg in einem Industriequartier musste sie einige Hindernisse aus dem Weg räumen, bis sie wieder sicher zur Arbeit gelangen konnte.
„Die Firma bei der ich arbeite, ist vor drei Jahren in ein Industriequartier gezogen. Ich musste meinen Weg dorthin neu erlernen. Und dieser war leider mit zahlreichen Hindernissen gespickt. Eines davon war die Bushaltestelle. Diese liegt an einer befahrenen Strasse und ist am Strassenrand in die Böschung gebaut. Der Boden der Haltestelle war mit einem Metallgitter versehen. Mein Blindenführhund konnte das Gitter nicht betreten, es tat ihm an den Pfoten weh und er hatte Angst wegen der Höhe. Wenn man aber das Gitter nicht betritt, steht man mitten in der Strasse.
Gemeinsam mit meiner O&M Trainerin Lea Appiah von der Beratungsstelle Sichtbar Zürich, habe ich das Problem dem Bau- und Verkehrsamt geschildert. Alles ging dann sehr rasch. Innerhalb von 2 Wochen war das Gitter durch Holzplanken ersetzt und ich konnte mit meinem Führhund im sicheren Bereich der Haltestelle warten.
Ein weiteres Hindernis war der Weg zum Geschäft. Weil es sich um ein Industriequartier handelt, sind auf dem Weg zum Gebäude keine Trottoirs mit tastbaren Kanten, die mir helfen würden, mich zu orientieren. Hier unterstütze mich nochmals Frau Appiah. Sie schlug vor, Leitlinien von der Haltestelle zum Gebäude zu ziehen. Sieben Landbesitzer und die Gemeinde mussten involviert werden. So hat sich das Ganze sehr in die Länge gezogen. Aber wir sind drangeblieben. Als wir mit einem schriftlichen Gesuch direkt an die Liegenschaftsverwaltungen der an die Strasse grenzenden Gebäude gelangt sind, bekamen wir endlich die Erlaubnis für die Leitlinien. Das hat fast 15 Monate gedauert. Wir Menschen mit Blindheit müssen hartnäckig sein und manchmal auch unbequem, wenn es um unsere Sicherheit geht!“
Marianne Kellerhals ist seit 1999 Langstockläuferin. Eine Baustelle in ihrem Wohnort Füllinsdorf, Basel Land, machte ihr die selbständige Orientierung unmöglich.
„In unserem Dorf wird eine grosse Ampelkreuzung durch einen Kreisel ersetzt. Das hat eine riesige Baustelle gegeben, die ich als blinde Fussgängerin nicht mehr selbständig passieren konnte. Ich hätte via mehrere Nebenstrassen die Strassenseite wechseln sollen, doch mir fehlte dort komplett die Orientierung. Sämtliche mir bekannte Wege waren verbarrikadiert. Ich bin dann an die Bauverwaltung der Gemeinde gelangt, die leider nicht zuständig war, mir jedoch einen Ansprechpartner im Kanton angegeben hat.
Dort habe ich angerufen und dem Herrn die Situation geschildert. Er war sehr aufgeschlossen, hat das Problem ernst genommen und mir erklärt, dass er die Situation vor Ort mit dem Orientierungs- und Mobilitätstrainer Martin Münch anschauen werde.
Martin Münch und der Bauleiter vom Kanton haben gemeinsam eine Lösung gefunden. Sie haben für mich mit Holzlatten eine Führung auf den Boden geschraubt, so dass ich den Umweg um die Baustelle wieder mit dem Stock ertasten konnte. Die Baustelle hat sich mit der Zeit immer wieder verändert und dankenswerterweise haben sie das mobile Leitsystem mit den Holzlatten immer wieder mit verändert, so dass ich dem Verlauf der Baustelle folgen konnte.
Wenn wir Menschen mit Blindheit auf Hindernisse treffen, dann sollten wir uns melden und nachfragen, ob man dieses Hindernis aus dem Weg räumen kann. Ich habe in meiner Gemeinde schon einiges bewirkt: hier einen Handlauf, dort eine Schwelle. Vor zwei Jahren kam sogar der Gemeindepräsident auf mich zu und hat mich angesprochen wie froh er sei, dass ich den Mut habe, mich immer wieder zu melden, wenn etwas nicht hindernisfrei ist. Die Gemeinde könne aus meinen Hinweisen immer lernen und meist seien es kleine Veränderungen, damit es für uns Menschen mit Blindheit auch stimmt. „
Stephan Hüsler, Präsident von Agile.ch, Geschäftsleiter von Retina Suisse und selbst sehbehindert, hat sich an etlichen Orten für Hindernisfreiheit im öffentlichen Raum eingesetzt, für sich selber und für andere Menschen mit verschiedenen Behinderungen.
«Ich stosse leider immer wieder auf Um- oder Neubauprojekte, bei denen die Normen, die erarbeitet wurden und schweizweit gelten, nicht eingehalten werden. Manchmal verschwinden die Trottoirkanten,
für die eine Mindesthöhe von drei Zentimeter vorgeschrieben ist, beim Umbau einer Haltestelle mit Fussgängerüberweg gänzlich. So geschehen in Zürich auf dem Weg zu meiner Arbeitsstelle. Mir fehlt die Trottoirkante dann für die Orientierung mit dem Stock. Dass diese 3cm-Kanten eine wichtige Funktion für blinde und sehbehinderte Menschen haben, ist vielen nicht bewusst. Wir haben die Normen in langen Verhandlungen und unter Einbezug aller Interessensgruppen und Tests wie «Randsteinlaboren » eingeführt, damit wir nicht bei jedem
Um- oder Neubau alles neu denken und konzipieren müssen. Da frage ich mich schon, warum das nicht einfach angewendet wird und wir immer wieder und zum Teil mit Gerichtsverfahren Verbesserungen
erzwingen müssen. In Wolhusen wurde die Fachstelle Hindernisfreie Architektur erst nach öffentlichem Druck durch die Medien für
Verbesserungen der Hindernisfreiheit am umzubauenden Busbahnhof einbezogen.
Es gibt aber auch positive Fälle, in denen die Behörden bei
Mängeln rasch auf meine Nachfrage oder Empfehlungen reagiert haben. So habe ich an meinem ehemaligen Wohnort Kriens moniert, dass die Ampeln über keine hindernisfreien Signalanlagen verfügten. Zusammen mit einem ebenfalls blinden Kollegen, Walti Schmutz, schrieb ich dem Gemeinderat ein Gesuch. Darin erklärten wir, weshalb es wichtig ist, dass die Lichtsignalanlagen hindernisfrei umgerüstet werden. Daraufhin wurden wir von der Gemeinde sogar gefragt, welche Ampeln wir regelmässig brauchen. Alle natürlich! Das zeigt, dass es sich lohnt, die Stimme zu erheben!»