Wie kann die Zusammenarbeit von Ärzteschaft und Beratungsstellen verbessert werden?
Studie PROVIAGE
Die Ergebnisse der PROVIAGE-Studie sind da: Sie zeigen Lücken in der Überweisungspraxis auf. Betroffene von altersbedingter Sehbeeinträchtigung wissen oft nicht, dass sie sich kostenlos bei Beratungsstellen über Hilfeleistungen informieren können. Oder sie finden erst den Weg gar nicht in die Beratungsstelle, obschon sie vom Augenarzt dorthin überwiesen wurden.
von Michel Bossart
Zusammen mit Retina Suisse, einer Vereinigung von Patientinnen und Patienten mit Retinitis pigmentosa (RP), Makuladegeneration, Usher-Syndrom und anderen Erkrankungen des Augenhintergrundes, hat SZBLIND 2021 eine Studie in Auftrag gegeben: Es galt herauszufinden, warum viele ältere Menschen, die von einer Augenkrankheit betroffen sind, nicht den Weg in eine entsprechende Beratungsstelle finden.
Vivianne Visschers ist seit 2023 die Verantwortliche für Forschung beim SZBLIND und betreute die PROVIAGE-Studie (PROVIAGE steht für «Professional network for visual impairment in old age», deutsch: Für ein professionelles Netzwerk bei Sehbeeinträchtigung im Alter). Zu deren Hintergründen ergänzt sie: «Aufgrund unserer eigenen Schätzungen und Studien wissen wir ungefähr, wie viele Betroffene es in der Schweiz gibt. Wir wissen auch, dass je älter ein Mensch wird, desto eher ist er von einer Sehbeeinträchtigung betroffen. Wir wissen aber leider auch, dass nur ein Bruchteil dieser Menschen das kostenlose Beratungsangebot von Organisationen wie dem SZBLIND, der Caritas oder des SBV-FSA etc. in Anspruch nehmen.» Irgendwo gibt es also eine Lücke. Nur wo?»
Wissenschaftliche Untersuchung
Für die Durchführung der Studie wurde die Zusammenarbeit mit zwei Hochschulen für soziale Arbeit gesucht. Dr. Alexander Seifert von der Fachhochschule Nordwestschweiz war der Studienleiter und für die französische Schweiz war Romain Bertrand von der Haute école de travail social et de la santé Lausanne (HETSL) verantwortlich. Zuerst wurden alle Akteure in diesem Zusammenspiel genau definiert und alle bereits existierenden Richtlinien, Studienergebnisse und Empfehlungen zusammengetragen. In einem zweiten Schritt wurden in einem partizipativen Vorgehen mit Vertretern und Vertreterinnen von Hausärztinnen, Augenärzten, Beratungsstellen für Menschen mit einer Sehbeeinträchtigung sowie für Senioren und Seniorinnen, Spitex-Verantwortlichen und Orthoptistinnen Workshops durchgeführt, um dem Thema auf den Grund zu gehen. «Der dritte Schritt», sagt Visschers, «war dann eine nationale Befragung von Fachpersonen und Betroffenen.» Erstere konnten sich in einer Online-Befragung zum Thema äussern. Die Betroffenen, Menschen über 70 mit altersbedingter Sehbeeinträchtigung, wurden telefonisch kontaktiert.
Enttäuschungen und positive Überraschungen
Das Studienresultat überraschte die Auftraggeber nicht über die Massen: Ja, es gibt eine Lücke in der Überweisungspraxis. «Die vertiefte Untersuchung nach wissenschaftlichen Standards ist für uns sehr hilfreich», sagt Visschers. Sie ergänzt: «Wir wussten zum Beispiel, dass nur ein Bruchteil derjenigen, die eine Überweisung an eine Beratungsstelle erhielten, sich dann auch tatsächlich für ein Gespräch anmeldeten. Aber dass es nur gerade zwölf Prozent sind, das hat uns dann doch überrascht, wenn nicht gar erschreckt!»
Eine weitere Erkenntnis war, dass das Beratungsangebot von vielen Augenärzten als ergänzend zur medizinischen Behandlung der Beeinträchtigung geschätzt wird. «In der Beratung lernen die Klienten, mental mit der Beeinträchtigung umzugehen und ihnen wird gezeigt, wie man Hilfsmittel im Alltag zielführend einsetzt», sagt Visschers und kommt zurück auf das Studienresultat zu sprechen: «Anders als bei Augenärzten stehen Hausärzte und -ärztinnen kaum in Kontakt mit den Beratungsstellen, wahrscheinlich, weil sie sie nicht kennen und die psychosozialen Aspekte einer Sehbeeinträchtigung nicht oder zu wenig gründlich in ihrer Ausbildung thematisiert wurden. «Klar», relativiert sie, «ein Hausarzt ist ein Allrounder, der vieles wissen muss. Schön wäre es trotzdem, wenn auch diese Allgemeinmediziner unser Angebot kennen und Patienten aktiv an eine Beratungsstelle überweisen.»
Auf der anderen Seite gab es auch positive Überraschungen: «Die Mehrheit (zirka 75 Prozent) der Augenärzte kennt das Angebot der Beratungsstellen. Und diejenigen Patienten, die überwiesen wurden und das Angebot in Anspruch genommen haben, waren mit den Beratungsdienstleistungen sehr zufrieden.»
Die Vermutung, dass die mangelhafte Überweisungspraxis etwas mit dem Fehlen eines formellen Überweisungssystem zu tun haben könnte, hat sich bewahrheitet. Visschers sagt: «Es gibt kein einheitliches Überweisungssystem wie bei anderen Erkrankungen. Jede Augenarztpraxis hat ihre eigene Methode und Vorstellungen, wie diese verbessert werden könnte.»
Verbesserungspotenzial ausschöpfen
Wenn es also an einer mangelhaften Überweisungspraxis von der Ärzteschaft zu den Beratungsstellen liegt, was gedenkt SZBLIND dagegen zu unternehmen? Visschers sagt dazu: «Augenärzte und Beratungsstellen müssen regelmässig, sei es in formellen oder informellen Treffen, darüber sprechen, wie sie den Überweisungsprozess für beide Seiten besser gestalten können.» Braucht es ein spezielles Formular? Ist die Ärzteschaft auf Rückmeldungen aus den Beratungsstellen angewiesen?
In erster Linie gelte es auch die 88 Prozent der überwiesenen Patienten, die aber nie den Weg in eine Beratungsstelle gefunden haben, abzuholen. Visschers wünscht sich, dass die Augenärzte sich für den gesamten Patient Journey verantwortlich fühlen. «Vielleicht könnte ja eine Praxisassistenz bei den Patienten nachfragen, ob es mit dem Termin bei der Beratungsstelle geklappt habe und ob sie sich über deren Angebot haben informieren können.»
Visschers gibt aber auch zu bedenken, dass die Beratungsstellen bereits recht ausgelastet sind. «Wahrscheinlich müssen wir uns auch über die Art Beratung Gedanken machen: niederschwelligere Wege für eine Erstberatung und effizientere Methoden finden.» Wichtig sei, dass Betroffene das Beratungsangebot so früh wie möglich in Anspruch nehmen. Denn je früher man sich informiere, desto einfacher sei es mit der Akzeptanz der Beeinträchtigung und desto einfacher sei es auch, den Umgang mit den Hilfsmitteln zu erlernen. «Wer zuerst eine Lupe zur Hilfe nimmt, akzeptiert später ein Lesegerät problemloser. Diese Schritt-für-Schritt-Hilfe vereinfacht auch die Arbeit der Berater und Beraterinnen.»
Nun gilt es also, die Erkenntnisse fertig zu analysieren und geeignete Massnahmen zu ergreifen. Visschers sagt zum Schluss: «Mir wurde wieder einmal bewusst, wie wichtig die Betroffenen selbst sind. Es bringt nichts, wenn die Überweisung von den Arztpraxen zu den Beratungsstellen super funktioniert, die Betroffenen das Beratungsangebot aber nicht nutzten.» Visschers, die einen Hintergrund in Gesundheitspsychologie aufweist, macht auch auf ein anderes Problem aufmerksam. Oft würden Menschen, die von altersbedingter Sehbeeinträchtigung betroffen sind, denken: «Ich sehe einfach etwas schlechter. Aber ich brauche doch keine Unterstützung.» Hier müsse Überzeugungsarbeit geleistet werden. Denn Hilfe anzunehmen, ist keine Schande.