Prix de Canne blanche 2023

Ein Mann und eine Frau betrachten Spindeln auf denen Kordeln aufgerollt sind.
Das Museum.BL stellt Exponate zum Ertasten zur Verfügung. / Bild: Museum.BL

Von Michel Bossart

Bereits zum neunten Mal wird im September 2023 der «Prix de la Canne blanche» verliehen. Bis Ende März konnten Projekte zugunsten von blinden, sehbehinderten und taubblinden Menschen in der Schweiz eingereicht werden. Drei davon werden hier vorgestellt.

Das Stockhorngebiet erwandern, ertasten und fühlen
Der Wanderweg «No Limits» rund um den Hinterstockensee auf 1590 Metern über Meer im Berner Oberland wurde 2017 eingeweiht. An der Mittelstation Chrindi der Stockhornbahn kann ein speziell angefertigter, geländegängiger Rollstuhl gemietet und so der hindernisfreie Rundwanderweg unter die Räder genommen werden.

Ein sehbehinderter Mann ist bei strahlendem Wetter auf einem idyllischen Bergwanderweg am wandern.
Bild: SBV

Beat Egli aus Wohlen bei Bern möchte diesen Wanderweg ausbauen. In der Projekteingabe schreibt er: «Meine Ideen für eine Neugestaltung erfüllen die Bedingungen, dass auch blinde und sehbeeinträchtigte Menschen den Weg nutzen und ein schweizweit einmaliges Bergerlebnis erleben können.»
Egli ist es dabei wichtig, dass sehbeeinträchtige Wanderer auf dem Rundweg einerseits Stationen antreffen, die Wissen über das Gebiet Stockhorn vermitteln, und andererseits soll es auch Stationen geben, die ein Sinneserlebnis versprechen. So soll beispielsweise ein 3D-Relief Menschen mit einer Sehbehinderung ermöglichen, das Stockhorn- Gebiet tastend zu erkunden. Die bereits vorhandenen Blumentafeln werden mit Ton-Reliefs erweitert und die Tiere der Bergwelt – Steinbock, Gämse und Murmeltier – können anhand von lebensgrossen Bronzeskulpturen berührt und ertastet werden. Wasser und Steine, Kies und Sand sind ebenfalls Teil des Erlebnisses.
Insgesamt sollen fünf inklusiv eingerichtete Stationen des Rundwanderwegs den Zugang zur Erlebnisregion Stockhorn öffnen. Alle Stationen werden auditiv unterstützt, sind wetterfest und ganzjährig geöffnet. Noch ist das Projekt nicht realisiert. Beat Egli erhofft sich von der Eingabe des Projektes beim «Prix de la Canne blanche» Aufmerksamkeit von potenziellen Sponsoren, die das Projekt unterstützen würden. Die Stockhornbahnen sind vom Projekt überzeugt, doch fehlen für die Realisierung die Mittel.

Auf Tuchfühlung mit dem Seidenband. Eine Entdeckungsreise im Museum.BL
Am Anfang des Projekts stand eine Anfrage: Eine Kulturreisegruppe aus Deutschland buchte eine Führung durch die Ausstellung «Seidenband, Kapital, Kunst & Krise» im Museum.BL in Liestal. Dr. Simone Ochsner, Verantwortliche für Bildung und Vermittlung im Museum.BL sagt: «Führungen durch die Seidenband-Ausstellung sind ein Dauerbrenner. Was diese Anfrage speziell machte, war der Zusatz, dass die Führung für Gäste mit Sehbehinderung sein sollte.»
Aus dem Bauch heraus habe sie sich entschieden, diese Herausforderung anzunehmen. Und beinahe ebenso schnell wurde ihr klar, dass dies nicht eine einmalige Sache nur für diese eine Reisegruppe bleiben sollte: Vielmehr beschloss das Museum.BL kurz darauf, Führungen für Menschen mit einer Sehbeeinträchtigung ins Vermittlungsprogramm aufzunehmen.
Ochsner erzählt: «Mit Fachpersonen machten wir einen Rundgang durch die Ausstellung und übten uns im genauen Beschreiben von Objekten und Räumlichkeiten. Zudem wurde die Webseite des Museums barrierefreier gestaltet und mit fachlicher Unterstützung eine Wegbeschreibung vom Bahnhof zum Museum für Menschen mit einer Sehbeeinträchtigung erarbeitet.»
Nun ist die Führung startklar: farbenprächtig gewobene schmale und breite Seidenbänder mit unterschiedlichen Motiven in diversen Qualitäten liegen zum Ertasten bereit sowie Kokons, Spüeli, Schiffli und Druckstöcke. «Im Gegensatz zu klassischen Museumsbesuchen dürfen auf dieser Führung zahlreiche Objekte angefasst werden. Diese Originalobjekte sowie ein betriebsbereiter Sägerwebstuhl von 1900 und Ausschnitte aus Interviews mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen machen hör- und taktil erfahrbar, wie aus einer Seidenraupenpuppe ein kostbares Seidenband entsteht », erklärt Ochsner.

Auf das schwarze Seidenband sind Rosen mit Blätter und Rosenknospen gestickt.
Bild: Museum.BL

Auf der Führung tauchen die Besucher und Besucherinnen in die Geschichte der Baselbieter Seidenbandweberei des 19. und frühen 20. Jahrhunderts ein. Sie hören vom Alltag der Heimposamenter- Familien in den kleinen Bauerndörfern und von einer Zeit, in der luxuriöse Basler Seidenbänder Hüte und Damenkleider in aller Welt schmückten.
Das Museum.BL versteht sich als offenes und lebendiges Mehrspartenhaus. Es richtet sich an alle Generationen und bietet vielfältige Zugänge zur Kultur- und Naturgeschichte des Kantons Basel- Landschaft. Seit diesem Frühling ist das Museum. BL um einen Zugang reicher: um denjenigen für Menschen mit einer Sehbeeinträchtigung.

Kopf frei für ein ungestörtes Arbeiten am Bildschirm
Das von der IT der Universität St. Gallen initiierte und von der Firma acfa entwickelte Gemeinschaftsprojekt «Head2Screen» unterstützt Men- schen mit starken visuellen Beeinträchtigungen bei der Arbeit am Bildschirm. Diese stellt für sehbeeinträchtigte Menschen eine grosse Herausforderung dar. Einerseits muss der Bildschirminhalt angemessen vergrössert werden, andererseits verhindert dies mit zunehmendem Vergrösserungsfaktor eine rasche Navigation und vermindert die Übersichtlichkeit.
Die derzeit verfügbaren Lösungen – also Kopflupen – verfügen über einen vierfachen Vergrösserungsfaktor und stellen ein Gesichtsfeld mit einem Durchmesser von zirka zehn Zentimetern dar. Ausserhalb dieses Gesichtsfelds ist der Bildschirm unvergrössert sichtbar. Das erleichtert die Orientierung auf dem Bildschirm. Doch: Das Gewicht der Kopflupen ist für den täglichen Einsatz eine grosse Herausforderung. Müdigkeit, Kopf-, Nacken- und Rückenschmerzen können die Folgen sein.
«Head2Screen» soll diese ohnehin veraltete Technologie nun ersetzen. Das Ziel ist, den Bildschirm genau im Lesebereich zu vergrössern, ohne dass Sehbeeinträchtigte eine Lupe oder ein anderes Gerät auf dem Kopf tragen müssen. Die Bildschirmlupe wird mittels Smartphone und Augmented Reality so positioniert, dass immer diejenige Stelle vergrössert wird, wo gerade gelesen oder gearbeitet wird. Wechselt die Person den Fokus auf einen anderen Bereich des Bildschirms, wandert die Lupe automatisch mit. Möglich macht dies die Gesichtsfeldanalyse der Augmented Reality App und die Kamera auf dem Smartphone. Wer sehbeeinträchtigt ist und am Bildschirm arbeitetet, stellt das Smartphone vor sich auf. Die App erfasst die Kopfbewegungen und stellt die Lupe dort ein, wo gerade gesehen wird. Die Nutzenden behalten so stets den Überblick und selbst komplexe Dateien wie Excel Spreadsheets können schneller erfasst werden. Die Entwickler versprechen sich, dass «Head2Screen» auch die Arbeitsintegration von Menschen, die auf grosse Bildschirmvergrösserungen angewiesen sind, fördert.

Ein Mann arbeitet mit einem aufgesetzten "Head2Screen" am PC.
Bild: Universität St. Gallen

Aktuell befindet sich das System in einer intensiven Entwicklungs- und Testphase. Die Navigation in der Menüstruktur und das Lesen auf einer Zeilenebene müssen noch korrekt parametriert werden. Das Projekt schreite gut voran und die ersten Ergebnisse seien vielversprechend, sagt Harald Rotter von der Universität St.Gallen. Die grossen Herausforderungen seien einerseits die Latenz zu verringern und andererseits die Navigation der Lupe auf einer Zeile und in einem Menü. Das System wird derzeit bis zur Marktreife verbessert, soll dann aber allen interessierten Anwendern als Open Source gratis zur Verfügung stehen.