Lücken im Prozess der heilpädagogischen Förderung
Die erste Studie des SZBLIND zur Erkennung und Anerkennung von Sehbeeinträchtigungen im (Vor-)Schulalter REVISA, bestätigt die vermuteten Stolpersteine in der sonderpädagogischen Förderung von Kindern und Jugendlichen mit einer Sehbehinderung.
Von Martina Schweizer, Interkant. Hochschule für Heilpädagogik HfH, Stefan Spring, Verantwortlicher Forschung SZBLIND
Der SZBLIND und mehrere Mitgliedsorganisationen haben unter der Bezeichnung „REVISA – Erkennung und Anerkennung von Sehbeeinträchtigungen im (Vor-)Schulalter“ zwei Studien in Auftrag gegeben. Die erste Studie, durchgeführt durch die Interkantonale Hochschule für Heilpädagogik in Zürich (HfH), konnte bereits abgeschlossen werden und die wichtigsten Ergebnisse aus dem Schlussbericht werden hier vorgestellt. Die Zweite Studie, durchgeführt durch die Universität Fribourg, untersucht die aktuelle Versorgung von schulpflichtigen Kindern mit Seh- / Hörsehbehinderungen durch spezialisierte Anbieter in der gesamten Schweiz und analysiert die strukturellen Bedingungen für die Ermittlung des Förderbedarfs, die Förderplanung und die Evaluation von Massnahmen in den Schweizer Kantonen. Diese Studie wird im Sommer 2022 veröffentlicht.
Kinder mit einer Sehbeeinträchtigung respektive mit einer Hörsehbeeinträchtigung können ab dem frühesten Kindesalter von einer meist ambulant organisierten, auf Sehbehinderung spezialisierten Heilpädagogischen Unterstützung und Förderung profitieren. Die SZBLIND Kommission Sonderpädagogik (KSP) vermutet seit Jahren, dass in der Schweiz ein Teil der Kinder mit einer Sehbeeinträchtigung ungenügende sonderpädagogische Förderung erhält. „Ungenügend„ wäre eine Förderung dann, wenn die Beeinträchtigung gar nicht erkannt oder mangels spezialisierter Abklärung unterschätzt wird. Ungenügend ist die Förderung auch, wenn sie die spezifischen Aspekte der Sehbehinderung nicht fachgerecht berücksichtigt und dies dazu führt, dass Lern- und Entwicklungschancen verpasst werden.
Die Voraussetzung, damit ein Kind keine vermeidbaren lern- und entwicklungshindernden Folgen einer Sinnesbeeinträchtigung erleben muss, entsteht im Laufe einer eigentlichen Kaskade von Ereignissen. Die HfH-Studie hat nun Biografien betroffener Kinder und Jugendlicher untersucht, und herausgefunden, welche Ereignisse diesen delikaten Prozess stören oder unterbrechen können. Solche Ereignisse können als „Risikobehaftete Entscheidungsereignisse“ verstanden werden: Risikobehaftete Entscheidungsereignisse sind Momente, die entscheidend sind für den Verlauf der Erkennung einer Sehbeeinträchtigung oder Hörsehbeeinträchtigung, die individuell angemessene Diagnostik sowie die Umsetzung geeigneter sonderpädagogischer Massnahmen, wobei institutionelle und personelle Übergänge besonders im Fokus stehen.
Fünf Risiken stehen im Vordergrund:
1. Eine Sehbeeinträchtigung wird nicht erkannt
Bestimmte Formen von Sehbeeinträchtigungen können den Ärztinnen und Ärzten bei ihren Entwicklungsuntersuchungen nicht auffallen. Schädigungen, die an den Sehorganen und im Verhalten äusserlich nicht wahrnehmbar sind, fallen speziell darunter. Später sind Erziehungsfachpersonen in Krippen, Kindergarten und Schulen mit derselben Schwierigkeit konfrontiert. Eltern laufen mit ihren Vermutungen bei angesprochenen Fachpersonen teilweise ins Leere.
2. Spezialisierte Abklärungen werden nicht durchgeführt
Bei Kindern, die mit vielfältigen Entwicklungsproblemen konfrontiert sind, wird der spezialisierten visuellen Abklärung kein Gewicht beigemessen. Diese sind in der Tat auch nicht einfach durchzuführen und im Bereich der cerebral bedingten Sehbeeinträchtigungen sind noch keine klaren Abläufe etabliert. Oft kennen die medizinischen Abklärungsstellen – die ersten, die bei Beeinträchtigungen angesprochen sind – die spezialisierten Abklärungen und ihr Potential nicht oder zu wenig gut.
3. Die Zusammenarbeit unter den Fachpersonen wird nicht gepflegt
Sprechen sich die involvierten Personen ungenügend ab, können Fördermassnahmen als störend oder zu aufwändig empfunden werden und können deshalb nicht umgesetzt oder abgebrochen werden.
4. Übertritte führen zum Abbruch von Fördermassnahmen und Nachteilsausgleiche
Wechselt ein Kind in eine nächsthöhere Stufe, ein anderes Schulhaus, oder wechseln die Lehr- und Bezugspersonen, können die Informationen zur Beeinträchtigung, zu den laufenden Massnahmen und die Rollen der verschiedenen Personen verloren gehen. Dokumentationen können ungenügend sein oder sie werden nicht weitergeleitet. Die Verantwortung liegt dann bei den Eltern, diese können sie aber nicht immer wahrnehmen.
5. Der Aufwand für Koordination und Organisation ist gross
Der Aufwand für die Abklärungen, die Terminkoordination und die regelmässige Durchführung von Fördermassnahmen ist gross. Die Heilpädagogik muss dazu Zeitressourcen haben, ansonsten bleibt diese Aufgabe bei den Eltern, die damit überlastet und überfordert werden können. Zudem fällt es Eltern oft schwer den Überblick über das komplexe interdisziplinäre und interprofessionelle Umfeld zu behalten.
Die HfH schliesst ihre Studie mit Empfehlungen ab:
- Fachpersonen im medizinischen Bereich (Ophthalmologie, Orthoptik, Pädiatrie) müssen sensibilisiert werden, damit sie Sehbeeinträchtigungen korrekt einschätzen können. Zudem kann die Zuweisung zu weiteren Abklärungen und (sonder-)pädagogischen Massnahmen verbessert werden, wenn diese bekannt sind.
- Pädagogische Fachpersonen ohne Spezialisierung im Bereich Sehen müssen für die Bedürfnisse Sehbeeinträchtigter Kinder und Jugendlicher sensibilisiert werden. Dadurch kann das Verständnis für spezifische Fördermassnahmen im Unterricht bzw. Klassenzimmer erhöht werden oder ein allfälliger Förderbedarf in diesem Bereich wird eher erkannt.
- Die Sensibilisierung weiterer Fachpersonen (Fachstellenleitungen Sonderpädagogik in Schulgemeinden, Schulleitungen, Sozialarbeitende oder Mitarbeitende von Mütterberatungsstellen) muss verstärkt werden. Dadurch kann die Bekanntheit von spezifischen Angeboten und Massnahmen zugunsten von Kindern mit Sehbeeinträchtigungen gesteigert werden.
- Anbieter von spezialisierten Förderangeboten:
- Die spezialisierte Förderangebote sind regional unterschiedlich ausgebaut. Damit auch Kinder, die nicht in der Nähe einer spezialisierten Institution wohnen, bestmögliche Förderung erhalten, sind Kooperationen mit lokalen heilpädagogischen Instanzen über die Kantonsgrenzen unerlässlich. Für Kinder mit Hörsehbeeinträchtigungen gibt es generell nur wenige spezialisierte Institutionen.
- Die Pflege und Aufrechterhaltung eines Netzwerks ist für Spezialisierte Institutionen, bzw. deren Angestellte, bedeutsam. In Leistungsverträgen sollte dies zum Grundauftrag gehören und entsprechende Ressourcen auslösen.
- Die Eltern sind primäre Ansprechpersonen in allen Angelegenheiten, die ihr Kind betreffen. Da dies einen hohen zeitlichen, emotionalen und wissensbezogenen Aufwand mit sich bringt, ist deren Unterstützung durch Fachpersonen oder Beratungsstellen zentral. Diese Begleit- und Unterstützungsfunktion sollte im Leistungsauftrag der entsprechenden Institutionen explizit aufgeführt sein.
- Eine Fachperson aus dem Bereich Sonderpädagogik, Pädagogik oder Soziale Arbeit sollte die längerfristige Fallführung bei einem betroffenen Kind übernehmen. Damit könnten die Eltern entscheidend entlastet und die Abläufe vereinfacht werdenVon zentraler Bedeutung ist, dass die entsprechende Fallverantwortung (Case-Management) geklärt ist und dass die notwenigen Ressourcen, um diese Funktion verlässlich ausführen zu können, eingestellt sind.
Somit wurden die lange gehegten Vermutungen wissenschaftlich erhärtet und spezifisch differenziert: Kinder mit einem verstärkten Förderbedarf im Bereich „Sehen“ können auf Grund von sensibilitäts-, ausbildungs- oder organisationsbedingten Gründen, die ihnen gemäss schweizerischen Gesetzen und kantonalen, nationalen sowie internationalen Konzepten (UNO-BRK) zustehende Förderung verpassen. Aus unserer Sicht ist dies ungerecht und unhaltbar.