Service: Hörbuch und Lesetipps 4/2018
Hörbuchtipps
«Alles ist wahr, nichts muss stimmen» steht fast am Ende von «Die unerhörte Geschichte meiner Familie», des über 1000 Seiten langen Romans des bosnischen Schriftstellers Miljenko Jergović. Wahrheit ist in der Kunst tatsächlich mehrdeutig. Wahrhaftigkeit trifft hier die Sache besser. «Man muss (…) seine literarischen Helden über den schmalen Grat zwischen Wirklichkeit und Text, zwischen gelebtem Leben und erzähltem Leben führen. Und zwar so, dass die Erzählung wahrhaftiger als die Wirklichkeit wirkt (…)», schreibt Jergović. Sein monumentaler Familienroman ist auch eine wahrhaft grossartige, tragikomische Geschichte der Verwerfungen des Balkans der letzten hundert Jahre.
- Jergović, Miljenko: Die unerhörte Geschichte meiner Familie
Frankfurt am Main: Schöffling & Co., 2017. Ausleihe: DS 44356
Geoff Dyers «Aus schierer Wut» erschien im englischen Original bereits 1997. Der reisserische Titel klärt sich im Untertitel: «In D.H. Lawrence‘ Schatten». Die Zeile «Aus schierer Wut» stammt nämlich von Lawrence. Dyer beginnt also ein Buch über Lawrence. Nur bereitet ihm das Schreiben leider unendliche Mühe und so bleibt allein, diese Mühe zu beschreiben. Ein gescheites und sehr lustiges Buch, das seinen Gegenstand stetig umkreist und sich dabei zur eigentlichen Hommage an D.H.L. entwickelt.
- Dyer, Geoff: Aus schierer Wut
Köln: DuMont, 2016. Ausleihe: DS 44414
Zadie Smith kehrt in ihren Romanen wiederholt in die Gegend Nord-Londons zurück, in der sie selber aufwuchs. Smiths neuster Roman «Swing Time» spielt im seinem Verlauf immer wieder dort. Ähnlich wie Elena Ferrante erzählt Smith von der Freundschaft und der Konkurrenz zweier Mädchen, die später auch als Erwachsene nicht voneinander loskommen. Der unterschiedliche Werdegang der beiden spiegelt sich in den Zeitsprüngen des Romans, der durch seine unsentimentale Sicht auf das Vergangene besticht im Hinblick auf eine mögliche Zukunft.
- Smith, Zadie: Swing Time
Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2017. Ausleihe: DS 38340
Brailletipp
Monika Marons neuer Roman «Munin oder Chaos im Kopf» war im Frühling das meist umstrittene Buch Deutschlands. Zwar sind sich die Rezensenten einig, dass es stilistisch brillant ist. Die Kritik entzündete sich am Inhalt und an der vermeintlichen Identität von Autorin und Protagonistin, also wieviel von Maron und ihren oft geäusserten Meinungen zur deutschen Flüchtlingspolitik in der Hauptfigur zum Tragen kommt. Denn diese entwickelt sich im Verlauf des Romans nachgerade zur heiligen Wutbürgerin, angefeuert von einer sprechenden Krähe, die sie täglich besucht und der sie den Namen Munin gibt. In Interviews scheint Maron die Vorwürfe nicht wirklich entkräften zu wollen, dennoch sind die im Roman aufblitzende Ironie und die geistreichen Reverenzen nicht zu überlesen. So kann man sich getrost auf die durchaus witzige Geschichte einlassen.
- Maron, Monika: Munin oder Chaos im Kopf
Frankfurt am Main: S. Fischer, 2018. 2 Bd. 223 S. Ausleihe: BG 28665
Die hier vorgestellten Bücher können Sie bei der Schweizerischen Bibliothek für Blinde, Seh- und Lesebehinderte ausleihen: Grubenstrasse 12, 8045 Zürich, +41 43 333 32 32, www.sbs.ch