„Selbstausdruck und angeborene Hörsehbehinderung“
Konferenzen und Tagungen sind Vieles, aber oft wenig effektiv. Oberlin Lebenswelten in Potsdam und die Tanne, die Schweizerische Stiftung für Taubblinde, haben im Schweizer Kurort Bergün Mitte Juni mit Erfolg neue Kongress-Zugänge gesucht – passend zum Thema „Selbstausdruck und angeborene Hörsehbehinderung“.
Von Mirko Baur, Sonderpädagoge und Gesamtleiter der Tanne, Schweizerische Stiftung für Taubblinde. Zusammen mit Katherine Biesecke vom Oberlinhaus war er Organisator und Gastgeber des Kongresses.
Vielleicht kennen Sie das: Tagungen mit einer Vielfalt von kurz getakteten Referaten und Workshops in Präsentationsform, durchaus spannend und anregend, aber wenig nachhaltig. Oberlin Lebenswelten und die Tanne, die Schweizerische Stiftung für Taubblinde, wollten es darum anders versuchen. Ein kreativer internationaler Kongress sollte es sein, der sein Thema, „Selbstausdruck & angeborene Hörsehbehinderung“ lustvoll ernst nimmt. Mit drei Theatergruppen mit Menschen mit Hörsehbehinderung aus drei Nationen im Zentrum des Programms. Mit echten Workshops zu Themen, die involvieren und dabei auch emotional berühren. Mit nur zwei kurzen, aber Impuls-gebenden Referaten. Mit einer Boutique-Grösse von 80 Teilnehmenden inkl. KünstlerInnen für einen lebendigen Austausch. Mit einem Film-Projekt für alle. Und mit einem Jugendstil-Kongresshotel mitten im UNESCO Welterbe der Berglandschaft zwischen dem schweizerischen Thusis und dem italienischen Tirano.
Gemäss Rückmeldungen der TeilnehmerInnen aus Australien, Deutschland, Holland, Italien, Norwegen und der Schweiz ist das geglückt. Der internationale Kongress vom 14. bis zum 16. Juni 2018 im Kurhaus Bergün wird in Erinnerung bleiben und dabei nachhaltig wirken.
Die Mischung macht es aus. Zum Beispiel die ausreichend langen Pausen für Austausch und Reflexion. Die sehr präsenten Menschen mit Hörsehbehinderung, die nicht nur in den Theateraufführungen zentral waren, sondern teilweise auch an Workshops, im Film-Projekt und sowieso an der Gala-Nacht teilnahmen. A propos Workshops: Die Angebote zu unterschiedlichen Aspekten des Selbstausdrucks lockten aus der Reserve und wurden immer auch praktisch. Beispiele dafür sind etwa der Workshop von Katherine Biesecke zu „Ablehnung, Scham und Ekel in der täglichen Arbeit“ oder von René Berera zu den „Sounds of life“, dem Selbstausdruck mit musikalischen Mitteln. Nicht, dass dabei oder überhaupt kognitive Inhalte zu kurz kamen: Das Impulsreferat von Mirko Baur führte zum Kongress-Auftakt ein in eine Definition von Selbstausdruck auf der Grundlage der aktuellen philosophischen und neurowissenschaftlichen Diskussion. Das Impulsreferat von Anne Varran Nafstad zeigte mit Fotografien von Skulpturen des norwegischen Künstlers Gustav Vigeland, wie wir Aufmerksamkeit, Intentionalität und Bedeutung in den körperlichen Ausdruck des Anderen „lesen“. Dabei wurde deutlich, dass unsere intuitiven Lesarten im Kontext von angeborener Hörsehbehinderung und Taubblindheit an Grenzen stossen: Weil uns betroffene Menschen mit anderen Formen von Selbstausdruck konfrontieren können.
Umso verbindender war das gemeinsame Film-Projekt. In Gruppen ging es darum, denjenigen Momenten nachzuspüren, in denen jede und jeder im je eigenen Element ist. Im Hier und Jetzt der Kongress-Tage oder auch logisch-reflexiv mit Rückblick auf die eigene Bildungsbiographie: Was nämlich haben Bildung und Erziehung dazu beigetragen? Und was bedeutet das für eine Taubblindenpädagogik, die Selbstausdruck fördern und stärken will? Ihre Ergebnisse haben die Gruppen mit je einer kurzen Filmsequenz dargestellt. Eine professionelle Film-Crew hat daraus mit ergänzenden Interviews sowie Theateraufnahmen einen rund 15-minütigen Kongress-Film entwickelt.
Erlebbar ist die vorläufige Film-Fassung unter www.tanne.ch/aktuell. Sie zeigt auch die stark expressive Natur und Architektur des Tagungsorts und macht die Kongress-Stimmung erlebbar. Letztere ist definitiv eine Aufforderung, mit etwas anderen, kreativen internationalen Kongressen fortzufahren.
Für eine etwas ausführlichere Version dieses Artikels siehe: blind-sehbehindert, Fachzeitschrift des Verbandes für Blinden- und Sehbehindertenpädagogik e.V., 3-2018.