Zwei sehbehinderte junge Männer berichten von ihren Reisen

Fremde Länder entdecken und neue Kulturen kennen lernen ist eine unserer grossen Leidenschaften. Neben technischen Hilfsmitteln ermöglichen uns die Begegnungen mit Einheimischen trotz starker Sehbehinderung und Blindheit das Reisen.

Von Yves Kilchör und Jonas Pauchard.

Ein heisser Samstagmorgen in Jerusalem. Die Strassen sind praktisch menschenleer und die Stadt ist uns noch völlig unbekannt. Wir machen uns auf den Weg vom Hotel in die Altstadt. Die Route glauben wir dank einer Auskunft an der Hotelrezeption und dem Navigations-App auf unserem Smartphone zu kennen. Als wir uns etwas später fragen, ob wir uns noch auf dem richtigen Weg befinden, hören wir nicht nur die Anweisungen des Navigations-Apps, sondern auch eine Männerstimme. Der Mann bietet uns seine Hilfe an und begleitet uns ein Stück weit in Richtung Altstadt. Dabei gibt er uns Anweisungen, beispielsweise zur Überquerung der Strasse. Dank dieser Begegnung kamen wir nicht nur der Altstadt ein Stück näher, sondern auch mit den Menschen in Jerusalems Strassen, deren unkomplizierten Hilfsbereitschaft sowie deren Offenheit ein erstes Mal in Berührung. Solche Begegnungen, die manchmal nur sehr kurz sind und flüchtig scheinen, sind für uns ein wichtiger Grund, immer wieder neue Länder und Städte zu bereisen. Und sie machen uns jedes Mal von Neuem Mut, unbekannte Orte selbstständig zu entdecken. Dies obschon Yves Kilchör stark sehbehindert ist und zwei Prozent sieht und Jonas Pauchard blind ist. Was für viele Menschen sehr abenteuerlich tönen mag, ist für uns mittlerweile eine Selbstverständlichkeit.

Ergeben hat sich dies vor einigen Jahren als wir die Idee einer gemeinsamen Europa-Bahnreise hatten. Daraufhin überlegten wir uns, wie wir als gute Freunde trotz Sehbehinderung selbstständig fremde Städte und deren Sehenswürdigkeiten entdecken können. Auf dieser ersten gemeinsamen Reise durften wir feststellen, dass wir vieles erlebten, was uns auf anderen Reisen vorenthalten blieb – wie zum Beispiel unkomplizierte Begegnungen mit Einheimischen. Deshalb ziehen wir seither immer wieder gemeinsam in die Welt hinaus, etwa nach Bali, Malaysia, Schweden oder eben Israel.

Vorbereitung ist die halbe Reise

Ein wichtiger Faktor, der zum Gelingen unserer Reise beiträgt, ist die Vorbereitung. Sie gestaltet sich bei uns wohl aufwändiger als bei den meisten sehenden Menschen. Dabei ist für uns ein wichtiges Kriterium, wie das Land oder der Ort erschlossen ist. Für uns ideal sind Länder oder Städte, die gut mit dem öffentlichen Verkehr zu bereisen sind. Schon von zu Hause aus können wir die Fahrpläne abrufen, unsere Route planen und dann vor Ort immer wieder neu abstimmen. Wir informieren uns dafür vorgängig via Internet und versuchen uns durch Reiseberichte und Informationen zur geografischen Lage eines Ortes einen ersten Überblick zu verschaffen. Ausserdem benutzen wir meist Google Maps, welches uns durch die Städte navigiert und uns mit Sprachbefehlen die Route angibt. Ergänzend hilft uns Blindsquare, eine blindenspezifische App, die uns beschreibt, welche Orte und Sehenswürdigkeiten sich in der Nähe befinden und uns mit Navigationshinweisen gemäss dem Ziffernblatt einer Uhr dorthin lotst. Allerdings brauchen wir dafür ständig Internetempfang auf unserem Handy. Aus diesem Grund beschaffen wir uns gleich zu Beginn einer Reise eine SIM-Karte mit Datenvolumen eines lokalen Anbieters. Auf dem Handy speichern wir vorgängig auch wichtige Telefonnummern von Botschaften oder Konsulaten, Notfalldiensten, unserer Reiseagentur, gebuchten Hotels sowie unserer Familie, um im Notfall rasch jemanden kontaktieren zu können.

Kontakte sind generell wichtig. Oft suchen wir über Bekannte, Facebook oder Plattformen wie Couchsurfing Einheimische, welche uns vor Ort ihre Stadt zeigen.

Und last but not least geht leider auch bei uns nichts ohne Geld. Wir informieren uns oft schon in der Schweiz, wie wir im Zielland bezahlen können. Zudem lassen wir uns das Geld erklären, um die Noten und Münzen bei Ankunft schon etwas zu kennen – sei es durch Erspüren oder mit unserem Sehvermögen.

Das Abenteuer beginnt vor Ort

Wurden diese notwendigen Vorbereitungen getroffen, ist die Vorfreude gross, unser theoretisches Wissen über den zu bereisenden Ort unter Beweis zu stellen und vor Ort mit unseren praktischen Erfahrungen abzugleichen. Wie reagieren die Menschen auf uns? Wie hilfsbereit sind sie? Diese Fragen finden sich in keinem klassischen Reisebericht. Zudem lassen sich diese Fragen wohl nur individuell und subjektiv beantworten. Durch das Gespräch mit den Menschen und unseren Erfahrungen lernen wir Land und Leute kennen. Die schönsten Momente ergeben sich im Kontakt zu den Menschen, oder auch beim Ausprobieren von uns unbekannten Speisen. Dies gibt uns das Vertrauen und die Motivation, um uns auf Neues und Unbekanntes einzulassen.

Von einer wagen Idee zur Fernseh-Doku

Dass es für unsere Mitmenschen keine Selbstverständlichkeit ist, dass auch blinde und sehbehinderte Menschen alleine oder gemeinsam mit ebenfalls sehbehinderten Freunden reisen, wurde uns aufgrund der Fragen aus unserem Umfeld bewusst. Viele Menschen scheinen sich nicht vorstellen zu können, wie wir trotz Sehbehinderung in fremde Länder und Städte reisen. Dieses Interesse war für uns Anlass, das Schweizer Fernsehen mit der Idee zur Realisation einer Reisesendung von sehbehinderten Menschen zu kontaktieren.

Als sich Mitarbeitende der Programmentwicklung von SRF bei uns meldeten und ein erstes Treffen mit uns vereinbarten, war die Überraschung gross. In den folgenden zwei Jahren gab es viele Gespräche und einige praktische Versuche – immer mit dem Ziel, dass wir trotz Kamera möglichst uneingeschränkt reisen und die spontanen Begegnungen authentisch gezeigt werden können. Aus dieser spannenden und auf viel Vertrauen basierenden Zusammenarbeit mit einem kleinen Fernsehteam sind nun drei Sendungen entstanden. Sie wurden Ende 2018 unter dem Namen „Blindflug“ auf SRF 1 ausgestrahlt und sind im Internet beim SRF abrufbar, auch mit Audiodeskription.

Wir hoffen, mit diesen Sendungen der Bevölkerung die Welt von Menschen mit einer Sehbehinderung etwas näher gebracht und dadurch einen Beitrag zum Abbau von Ängsten und Vorbehalten geleistet zu haben. Aus unserer Sicht zeigen die drei Reiseberichte schön auf, dass Vorbereitung und Hilfsmittel enorm wichtig sind. Schliesslich machen es aber die Menschen aus, die wir spontan oder auf Vereinbarung hin vor Ort treffen. Sie sind die Helden der Sendungen und für uns ein wichtiger Grund, immer wieder aufs Neue aufzubrechen.