Schlecht sehen? Und doch gut leben?
Was Low Vision-Beratung und –Rehabilitation leisten können
Von Ann-Katrin Gässlein
Erst knapp drei Jahre ist es her, dass der Schweizerische Zentralverein für das Blindenwesen SZBLIND die Zahl blinder und sehbehinderter Menschen in der Schweiz neu geschätzt hat. Das Ergebnis war dazumal aufsehenserregend: Statt der Zahl, die lange Zeit unüberprüft immer wieder genannt wurde – 80 000 bis 100 000 Menschen – berechnete Forschungsbeauftragter Stefan Spring die Zahl der betroffenen Menschen auf rund 325’000 Menschen; die meisten davon älter als 65 Jahre, und mehrheitlich sehbehindert, nicht blind.
Dieses Ergebnis führt im Sehbehindertenwesen, das sich der Hilfe und Unterstützung blinder und sehbehinderter Menschen verschrieben hat, zu einem Umdenken. Wenn die Mehrheit der betroffenen Menschen im höheren oder sehr hohen Alter mit einer beginnenden oder fortschreitenden Sehbehinderung zu kämpfen hat, dann erhält eine Disziplin des Sehbehindertenwesens ein enormes Gewicht: die Low Vision-Beratung und –Rehabilitation. Vergleicht man aber die Zahl der Menschen, bei denen eine spezifische Low Vision-Rehabilitation Verbesserungen und eine optimale Nutzung ihres Sehrests bringen würde, mit derjenigen, die auch de facto eine solche Rehabilitation in Anspruch nehmen, so tut sich eine grosse Lücke auf. Das Fazit ist klar: Es nehmen zu wenig Menschen die Angebote von Low Vision in der Schweiz in Anspruch.
Die Gründe dafür sind vielfältig: Low Vision-Beratung und –Rehabilitation ist längst nicht überall bekannt. Zwar pflegen viele Einrichtungen des Sehbehindertenwesens gute Beziehungen zu den lokalen Augenärztinnen und Augenärzten und unterhalten ein enges Netzwerk, doch gibt es trotzdem weisse Flecken auf der Landkarte der Low Vision-Bekannheit. In der Praxis zeigt sich immer wieder, dass Patientinnen und Patienten erst an eine entsprechende Beratungsstelle überwiesen werden, wenn die Sehschärfe unter 0.1 liegt. Eine Low Vision-Rehabilitation sollte aber so früh wie möglich beginnen, denn auch schlechtes Kontrastsehen, Blendungsempfindlichkeit oder Gesichtsfeldeinschränkung sind Einschränkungen, für die es Beratung und entsprechende Hilfsmittel gibt. Zuletzt pflegen viele Menschen im höheren Alter die Einstellung, dass schlechtes Sehen zum Alterungsprozess dazu gehöre – was nicht falsch ist – und man „eh nichts machen könne“ – was so nicht stimmt. Daher braucht es eine entsprechende Sensibilisierung der Angehörigen.
Was tun, wenn medizinisch nichts mehr geht?
Für viele Augenkrankheiten, die im Alter auftreten, gibt es leider wenig Heilmethoden. Doch auch wenn eine augenärztliche Behandlung an einen Punkt gelangt, an dem aus medizinischer Sicht nichts mehr getan werden kann, so existieren doch zahlreiche Wege, wie sich die noch vorhandene Wahrnehmung verbessern kann und das restliche Sehvermögen optimal nutzen lässt. Resignation ist fehl am Platz! Für viele ältere und sehr alte Menschen hat die Low Vision-Rehabilitation die ermutigende Botschaft, dass lieb gewonnene Tätigkeiten wie Lesen, Schreiben oder Rätsellösen nicht aufgegeben werden müssen – wenn man sich auf den Rehabilitationsprozess einlässt.
Die Wahrnehmung lässt sich immer verbessern
Eine erfolgsversprechende Low Vision-Behandlung erfolgt in enger Absprache mit dem Augenarzt oder der Augenärztin; im Idealfall erfolgt die Überweisung durch den behandelnden Arzt oder die Ärztin. Dieser bleibt weiterhin der wichtigste Ansprechpartner für die Augenkrankheit. Regelmässige ärztliche Kontrollen sind unerlässlich – Low Vision tritt als ergänzende Hilfe hinzu.
Beginnt man eine Low Vision-Beratung, so unternimmt die Spezialistin in der Regel zunächst eine ausführliche Untersuchung und Abklärung, bevor eine Beratung und ein Training mit optischen Hilfsmitteln ansteht. Zu solchen Hilfsmitteln gehören beispielsweise Lupenbrillen, Leseständer oder Leuchten. Doch ist eine vorherige Abklärung und ein Training mit diesen Hilfsmitteln unabdingbar, um sie auch wirklich wirksam einzusetzen.
Low Vision-Rehabilitation schaut weiter den Alltag und die unmittelbare Umgebung der Person mit den Sehproblemen an: In der Wohnung gibt es oft viele Anpassungsmöglichkeiten. Meistens ist eine stärkere Ausleuchtung, zum Beispiel des Küchenbereichs, von Vorteil. Auch beim Bügeln, bei der Auswahl von Kleidern oder beim Sortieren von Nahrungsmitteln in Schränken helfen Licht und grössere Beschriftungen.
Beratung, Hilfsmittel und Training in Kombination
In vielen Fällen gibt es Strategien, wie Tätigkeiten des Alltags „umgelernt“ werden können – zum Beispiel das Mittagessen auf den Tellern zu servieren, Geldnoten zu erkennen, Wasser in ein Glas einzuschenken oder Zahnpasta wieder auf der Bürste zu platzieren. Auch für die Gesichtserkennung, die bei Patientinnen und Patienten mit AMD zu grossen sozialen Einschränkungen führt, gibt es Methoden des „Umlernens“ – auch wenn diese zeitaufwändig und anstrengend sind.
Low Vision-Beratung und –Rehabilitation ist in der ganzen Schweiz in spezialisierten Beratungsstellen möglich. Die Low Vision-Angebote werden durch das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) subventioniert oder von Krankenkassen übernommen.