Wie finden sich sehbehinderte Eltern im Alltag zurecht?
Es braucht die Begleitung und den Austausch
Jedes Jahr kommen in der Schweiz rund 80’000 Kinder auf die Welt. Wie viele Babys davon sehbehinderte Eltern haben, kann niemand beziffern, denn die Geburtszahlen von blinden und sehbehinderten Eltern werden von keiner Fachstelle und keiner Studie erfasst. Ausserdem gibt es in der Schweiz auch keine Beratungsstellen für diese jungen Eltern. Wie finden sie sich im Alltag zurecht?
von Carol Lagrange
Dass die Probleme mit dem Alter der Kinder zunehmen, gilt sowohl für sehende als auch für sehbehinderte Eltern. «Doch für sehbehinderte Eltern sind wichtige Entwicklungsschritte wie der Übergang zu fester Nahrung oder das Trockenwerden schwieriger zu bewältigen, selbst wenn sie unglaublich achtsam sind», stellt Edith Thoueille fest. Sie ist die Gründerin und Leiterin der Elternberatungsstelle für Menschen mit einer Behinderung der Pariser Stiftung Fondation hospitalière Sainte-Marie (SAPPH). Der Auftrag der Beratungsstelle besteht in der Elternberatung und der Prävention einer vorzeitigen Umkehr der Eltern-Kind-Rolle. Angeboten wird diese Dienstleistung von der Zeit vor der Geburt bis das Kind 7 Jahre alt ist. Knapp die Hälfte aller Nutzerinnen und Nutzer sind blinde oder sehbehinderte Eltern. Einerseits will man den Eltern die Gelegenheit zum Austausch geben, andererseits dem Kind und seinen Eltern eine «adaptierte Säuglings- und Kleinkinderpflege» vermitteln. «Man muss ganz neue Wege gehen – etwa Ultraschallbilder versprachlichen, Spielsachen anpassen, mit den Gefühlen arbeiten oder die Voraussetzungen für den Schuleintritt vermitteln, indem man zum Beispiel der Mutter zeigt, wie ihr Kind einen Stift halten muss», führt Edith Thoueille weiter aus. Die Rolle ihrer Beratungsstelle besteht darin, Eltern zu befähigen und ihnen Strategien zu zeigen, die sie je nach Behinderung selber anpassen können.»
Vorsicht vor einer Rollenumkehr
Die Mutter-Kind-Kommunikation beginnt instinktiv bereits in den ersten Lebenstagen und ist sehr eng. Edith Thoueille nennt das eine «zweisprachige Beziehung»: «Eine sehbehinderte Mutter kann sich über Mimik, Lächeln und emotionale Botschaften ausdrücken – sie hat vielleicht das Sehvermögen verloren, nicht aber den liebevollen Blick. Es ist berührend zu sehen, wie das Baby sie betrachtet, wie es sich anschmiegt, um ihr Gesicht zu sehen. Oder ihr seine Ärmchen entgegenstreckt, um sie zu berühren.» Diese innige und intensive Beziehung kann jedoch während der Pubertät einer harten Prüfung unterzogen werden, nämlich dann, wenn es dem Kind bewusst wird, dass der behinderte Elternteil auf Hilfe angewiesen ist und sich dadurch selbst stark betroffen fühlt. Dann ist es wichtig, dass man dem Kind seine Rolle als Kind lässt, denn eine Sehbehinderung darf nicht zu einer Rollenumkehr zwischen Eltern und Kind führen.
In der Schweiz gibt es noch keine entsprechenden Einrichtungen. In der Westschweiz schlossen sich jedoch vor einigen Jahren blinde und sehbehinderte Eltern mit Kleinkindern zu einer Gruppe zusammen. Rund acht Paare trafen sich so regelmässig zum Gedankenaustausch. Wie kann man dem Kind ein Medikament verabreichen? Oder wie kann man sicherstellen, dass das Kind wieder zu seinen Eltern zurückkehrt, wenn man draussen unterwegs ist? Bei Fragen wie diesen erhielten die jungen Eltern die Gewissheit, dass sie mit der Erziehung auf dem richtigen Weg waren. «Man findet immer eine Lösung», erzählt eine sehbehinderte Mutter. «Als mein Sohn noch ein Baby war, kam jeweils eine Hebamme ins Haus und schnitt ihm beispielsweise die Nägel. Und wenn ich einen längeren Ausflug plante, forderte ich bei der Stiftung Pro-XY für ein paar Stunden eine Begleitperson an. Nun geht er bereits seit ein paar Jahren zur Schule und wir haben zum Glück Nachbarn und Verwandte, die ihm bei Bedarf bei den Hausaufgaben helfen. Wichtig ist, dass man lernt, um Hilfe zu bitten.»
Heute finden diese Elterntreffen nicht mehr statt, denn die Kinder sind inzwischen gross genug, um selbständig zu sein. Gewisse regionale Blinden- und Sehbehindertenverbände wie z.B. die ABA in Genf organisieren jedoch weiterhin punktuell solche Elterntreffen, die sehr beliebt sind. Dort tauschen Fachpersonen und Betroffene verschiedene Tipps und Tricks aus.
Angesichts dieses klaren Bedarfs an Begegnungsmöglichkeiten und Hilfestellungen für Menschen, die mit dem Gedanken spielen, trotz ihrer Behinderung Eltern zu werden, fragt es sich, ob es nicht sinnvoll wäre, auf regionaler Ebene professionell geführte Beratungsstellen nach dem Vorbild der Pariser Elternberatungsstelle für Menschen mit einer Behinderung (SAPPH) einzurichten.