Qualifizierung für eine inklusive Erwachsenenbildung
Seit Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention werden Fragen einer gelingenden Inklusion auch in Bildungseinrichtungen verstärkt diskutiert. In der allgemeinen Erwachsenenbildung (insbesondere in den Volkshochschulen) gilt das Leitbild der „Bildung für alle“ als richtungsweisend. Menschen mit Behinderung sind dabei aber oftmals wenig präsent.
Autoren: Sabine Lauber-Pohle, Ann-Kristin Langer, Johanna Rink, Universität Marburg
Menschen mit einer Behinderung nehmen traditionell in einem anderen Segment des Bildungswesens an Weiterbildung teil. Eine Öffnung der allgemeinen Erwachsenenbildung findet nur langsam oder über Kooperationen statt. Menschen mit einer Behinderung werden häufig als Individualfall wahrgenommen, für den eine situative Lösung, jedoch keine organisatorische Strategie vorhanden ist.
Das Projekt
Das Projekt „Qualifizierung für eine inklusive, allgemeine Erwachsenenbildung am Beispiel von Blindheit und Sehbeeinträchtigung“ (iQ_EB), greift nun Inklusion und Exklusion in der Erwachsenenbildung unter der Perspektive von Blindheit und Sehbehinderung auf. Es forscht nach, welche spezifischen Qualifikationen für eine inklusive Erwachsenenbildung auf Ebene der planenden und der lehrenden Mitarbeitenden von Volkshochschulen aus Sicht der Organisationen und aus Sicht der Adressaten benötigt werden. Das Projekt wird zwischen 2017 und 2020 vom deutschen Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) in der Förderrichtlinie „Qualifizierung der pädagogischen Fachkräfte für inklusive Bildung“ gefördert.
Im Projekt sollen zunächst grundlegende Erkenntnisse zum Thema allgemeine Erwachsenenbildung und Inklusion am Beispiel von Blindheit und Sehbeeinträchtigung gewonnen werden. Kooperationspartner des Projektes sind die Deutsche Blindenstudienanstalt (blista) e. V., der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband e. V. (DBSV), der Deutsche Verein der Blinden und Sehbehinderten in Studium und Beruf e. V. (dvbs) sowie der Hessische Volkshochschulverband e. V. (hvv).
Basierend auf den Erfahrungen der Einrichtungen und ihrer Kursleitungen sowie den Erfahrungen und Bedürfnissen der Teilnehmenden mit Blindheit und Sehbehinderung erarbeitet das Projekt ein Konzept für die Qualifizierung des pädagogischen Personals an Volkshochschulen.
Ausgangsüberlegungen und Umsetzung
Menschen mit Blindheit und Sehbehinderung, die an einer Volkshochschule Kurse besuchen wollen, stehen vor einer doppelten Orientierungs- und Entscheidungssituation. Zum einen müssen sie den für sie passenden Kurs im gewünschten Themenfeld finden und zum anderen stehen sie vor der Frage, ob der Kurs zugänglich und barrierefrei ist, ob er also z.B. mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreichbar ist, die Lehrmaterialien und Prüfungen barrierefrei sind.
Auf der anderen Seite steht die Volkshochschule vor der doppelten Passungsherausforderung, Bildungsangebote für eine Vielzahl von Menschen anzubieten und diese gleichzeitig inklusiv zu gestalten. Eine inklusive Ausrichtung der Volkshochschulen erfordert also, dass sowohl hauptamtlich planendes Personal als auch freiberuflich lehrendes Personal für eine inklusive Lehre qualifiziert ist (Ackermann 2016, Lauber-Pohle 2019).
Das Projekt greift nun beide Perspektiven auf und zielt darauf ab, Qualifizierungsangebote für die Mitarbeitenden an Volkshochschulen zu entwickeln. Für eine erste Bedarfsermittlung wurde zunächst ein Online-Fragebogen zu Weiterbildungsbedürfnissen und -erfahrungen sehbeeinträchtigter Adressatinnen und Adressaten durchgeführt. Insgesamt nahmen hieran 75 Menschen mit Blindheit und Sehbeeinträchtigung teil. Aufbauend auf diese Ergebnisse wurden zehn vertiefende Interviews geführt und ausgewertet.
Zu den wichtigsten Ergebnissen der Adressatenbefragung gehören, dass 47 % der Befragten sich bereits einmal gegen die Teilnahme einer Weiterbildung entschieden haben, weil es keine barrierefreie Zugangsmöglichkeit zum Angebot gab. Zu den benannten Barrieren zählen vor allem nicht barrierefrei aufbereite Dokumente (78%), fehlende Qualifizierung der Lehrperson (62%), fehlende spezifische Beratungs- und Informationsmöglichkeiten für Menschen mit Behinderung, insbesondere Sehbehinderung (60%) und fehlende Möglichkeit der räumlichen Orientierung (30%).
Bezogen auf die Volkshochschule im Speziellen zeigt sich eine deutliche Diskrepanz zwischen der aktiven Teilnahme oder dem Wunsch nach Teilnahme an den Kursen (65%) und der Einschätzung der Zugänglichkeit der Einrichtung (17% = zugänglich, 55% = nicht zugänglich, 27% = weiß nicht). Dies ist im Einzelnen stark von der jeweiligen Einrichtung abhängig, zeigt jedoch auch den Informationsbedarf und die Entwicklungsräume auf.
Parallel zur Online-Befragung wurden zunächst die Leitungen der Hessischen Volkshochschulen (N=29) zu ihren Erfahrungen mit Inklusion und deren Implementierung im Bereich der allgemeinen Erwachsenenbildung befragt und die erhobenen Daten ausgewertet. Aus diesen Interviews wurden vier Volkshochschulen nach geographischer Lage, Größe und Inklusions-Ausrichtung als Fälle ausgewählt. Dort wurden zusätzlich hauptamtlich pädagogische Mitarbeitende (HPM) und Kursleitungen aus verschiedenen Fachbereichen befragt. Daran anschließend konnten vier Fallanalysen an ausgewählten Volkshochschulen durchgeführt werden. Im Mittelpunkt der Interviews standen die Bedürfnisse und Erkenntnisse des hauptamtlich planenden pädagogischen Personals (N=18) und nebenberuflichen Kursleitungen (N=15) zur Inklusion im Allgemeinen und insbesondere bei Blindheit und Sehbehinderung.
Ausblick
Derzeit werden die Ergebnisse dieser Fallanalyse ausgewertet und für die Entwicklung von zwei Fortbildungsreihen zu je vier Tagen herangezogen. Die erste Fortbildungsreihe richtet sich an die Leitungen und das planende pädagogische Personal der Volkshochschulen. Im Vordergrund stehen eine allgemeine Sensibilisierung für Inklusion und Sehbeeinträchtigungen sowie Organisationsentwicklung und Kooperation und Vernetzung als Strategien einer inklusiven Öffnung. In der Reihe für die Kursleitungen stehen hingegen die Fragen der didaktischen Gestaltung im Vordergrund, insbesondere auch die Themen Barrierefreiheit von Unterrichtssituationen und Materialien.
Um das Thema auch im Rahmen von Forschung und Konzeptentwicklung weiter zu verfolgen, sollen die im Projekt entstandenen Kooperationen fortgeführt werden. Außerdem resultierte die Skizze für ein Folgeprojekt, das spezifisch die Frage der Lernberatung und der erwachsenenpädagogischen Diagnostik aufgreift.
Kasten: Das Forschungsprojekt „Qualifizierung für eine inklusive, allgemeine Erwachsenenbildung am Beispiel von Blindheit und Sehbeeinträchtigung – iQ_EB“ (BMBF, 01NV1714) ist ein Projekt des Instituts für Erziehungswissenschaft der Universität Marburg. Es wird geleitet von Prof. Dr. Wolfgang Seitter und Dr. Sabine Lauber-Pohle. Weitere Informationen zum Projekt finden Sie auf http://uni-marburg.de/TEVUv
Literatur
- Babilon, R. (2018). Inklusive Erwachsenenbildung mit Menschen mit Lernschwierigkeiten – eine qualitative Studie in England. Landau: Universität Koblenz-Landau.
- Goddar, Jeanette (2019): Die Grundhaltung muss stimmen. In: Menschen. Inklusiv Leben. Themenheft Lebenslanges Lernen. H. 2/2019. S. 34-37.
- Hirschberg, M.; Lindmeier, Ch. (2013). Der Begriff „Inklusion“ – Ein Grundsatz der Menschenrechte und seine Bedeutung für die Erwachsenenbildung. In: Burtscher, R.; Ditschek, E.-J.; Ackermann, K.-E.; Kil, M.; Kronauer, M. (Hrsg.) (2013).: Zugänge zu Inklusion – Erwachsenenbildung, Behindertenpädagogik und Soziologie im Dialog. Bielefeld: W. Bertelsmann Verlag. S. 39-52.
- Lauber-Pohle, S. (2019). Dimensionen einer inklusiven, allgemeinen Erwachsenenbildung. Hessische Blätter für Volksbildung 69 (1), S. 7-17.
- Siegmund, R.; Zimmermann, S. (2019). Erfahrungen blinder und sehbeeinträchtigter Menschen mit Bildungsangeboten an Volkshochschulen. In: horus, 2019, 81. Jahrgang (Heft 4), Seite 10-12.
- VHS München (2015). Münchner Erklärung zur Inklusion und öffentlich verantworteten Erwachsenenbildung. Online: https://www.mvhs.de/programm/verlinkungen/barrierefrei-lernen/muenchner-erklaerung-zur-inklusion-und-oeffentlich-verantworteten-erwachsenenbildung/ (31.03.2020).
- Zimmermann, S. (2020). Anforderungen an eine inklusive Erwachsenenbildung für Menschen mit Blindheit oder Sehbeeinträchtigungen“. Philipps-Universität Marburg, Bachelorarbeit (Manuskript)