Politik hat man im Blut
Manuele Bertoli und Barbara Müller im Gespräch
Nina Hug sprach mit Manuele Bertoli, Regierungsrat im Tessin, und Barbara Müller, Kantonsrätin im Thurgau, über ihre politische Karriere, die Integration von Menschen mit Behinderungen und ihre Rolle als Vorbilder.
Nina Hug: Manuele Bertoli und Barbara Müller, Sie beide sind schon früh in die Politik eingestiegen. Was hat sie dazu motiviert?
Manuele Bertoli: Politik ist etwas, das hat man im Blut oder nicht. Als ich 14 Jahre alt war habe ich bereits die Debatten am Fernsehen verfolgt. Das hat mich interessiert. Ich war neugierig auf den Diskurs. Und zu der Zeit waren einige sehr kontroverse Themen aktuell, zum Beispiel die nukleare Abrüstung oder der Zivildienst.
Barbara Müller: Ich bin in einem sehr politischen Elternhaus aufgewachsen. Mein Grossvater und mein Vater waren beide bei den Gewerkschaften und bei der SP engagiert. So wurde bei uns immer politisiert. Mit 30 Jahren bin ich dann selber der SP beigetreten. Da hier im Thurgau die SP eher schwach vertreten ist, engagierte ich mich gleich auf Gemeindeebene und später im Grossen Rat.
Nina Hug: Her Bertoli, sie sind erst vor kurzem wieder als Regierungsrat gewählt worden. Haben Sie in ihrer eigenen Wahlkampagne besonders auf Barrierefreiheit geachtet?
Manuele Bertoli: Nein, denn ich glaube das wir heute schon gute Mittel haben. Natürlich kann man alles immer noch verbessern aber wenn ich an den e-Kiosk des SBV denke oder an die Zugänglichkeit von Informationen im Internet, dann ist das heute viel besser als vor einigen Jahren. Wenn ich selber Informationen suche, dann habe ich sie bisher noch immer gefunden. Ich denke, heute kann man sagen, dass die Zugänglichkeit von Wahlinformationen ein Problem ist, dass wir hinter uns gelassen haben. Auch wenn ich natürlich einschränken muss, dass die Menschen, die nicht so affin sind für die elektronischen Medien, zum Beispiel solche, die erst im späten Alter erblinden und nie ein Voice-Over am Computer genutzt haben, eingeschränkter sind und mehr Probleme haben, an Informationen zu gelangen.
Nina Hug: Sehen Sie das ähnlich, Frau Müller?
Barbara Müller: Ich denke, für Menschen mit einer Sehbehinderung ist es zeitaufwändiger, sich zu informieren, als für sehende Menschen. Längst nicht alle Internetseiten sind barrierefrei und es geht viel Zeit mit der Navigation verloren. Ich lasse mir darum häufig auch Informationen von meinem Partner vorlesen oder Grafiken von ihm erklären.
Nina Hug: Herr Bertoli, ich habe gesehen, dass sie in ihrem eigenen Wahlkampf stark auf Videos gesetzt haben. Welche Bedeutung hat dieser visuelle Kanal für Sie? Sie sehen ja die Informationen selber nicht.
Manuele Bertoli: Ich glaube es ist ein gutes Medium heute. Aber natürlich kann ich es nur nutzen weil ich meine Leute habe, die das für mich machen. Ich habe eine Person, die für mich das Facebook-Profil, Instagram und alle Social Medial Kanäle bearbeitet. Ich gebe meine Zustimmung für die Inhalte und Texte die aufgeschaltet werden, aber ich mache es nicht selber. Wenn ich ein einfaches Parlamentsmitglied wäre ohne Mitarbeiter, dann könnte ich das nicht so professionell machen.
Nina Hug: Glauben Sie, dass die Interessen der Menschen mit Behinderung gut in der Politik vertreten sind?
Barbara Müller: Meine politische Vision ist klar: Ein Staat in dem jeder Bürger unabhängig von seiner Einkommens- und Vermögenssituation bzw. sozialer Stellung respektiert wird. Ganz im speziellen setze ich mich ein gegen Diffamierung jeglicher Art von Klienten von Sozialversicherungen (insbesondere der IV), denn diese Klienten als willfähriges Freiwild zu betrachten, ist eines demokratischen Rechtsstaates schlicht unwürdig. Die unsägliche Hetzkampagne gegen „Scheininvalide“ ist nur noch als widerlich zu bezeichnen.
Manuele Bertoli: Ich glaube, dass die Interessen von Menschen mit Behinderungen grundsätzlich gut vertreten sind. Aber das heisst nicht, dass sich, wenn es Interessenskonflikte gibt, auch diese Interessen durchsetzen. Man kann sicher sagen, die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen ist kein Randthema aber es gibt die Tendenz mehr darüber zu reden, als dann wirklich etwas zu tun oder zu entscheiden. Wenn man wirklich dafür ist, die Welt barrierefrei zu gestalten, dann heisst das eben auch, die Millionen in die Hand zu nehmen um die öffentlichen Gebäude und Infrastruktur behindertengerecht umzubauen. Aber peu à peu erreichen wir auch das.
Nina Hug: Ist es für Sie als selbst betroffene Politiker/Politikerin in der Praxis einfacher oder vielleicht sogar auch schwieriger, Interessen der Menschen mit Behinderungen in der täglichen Politischen Arbeit durchzusetzen?
Manuele Bertoli: Das Ziel ist klar, aber manchmal, da haben wir tatsächlich Probleme ganz praktischer Art. Ich gebe Ihnen zwei Beispiele. Ein kantonales Museum, das sich in einer alten Villa befindet sollte mit einem Lift zugänglich gemacht werden für Menschen mit einer Gehbehinderung. Weil es ein denkmalgeschütztes Haus ist, können wir keinen Lift innen im Haus einbauen. Für einen Lift aussen am Haus bedarf es einer Änderung des Bebauungsplans. Selbst mit dem nötigen Willen dauern solche Prozesse sehr lange. Zweites Beispiel: Inklusion in den Schulen. Wenn es um Menschen mit einer geistigen Einschränkung geht, dann muss das sehr gut vorbereitet sein, sonst scheitert die Inklusion. Und auch da braucht es trotz des Willens viel Geduld. Ich glaube, dass es mittlerweile gut gelingt, Menschen mit Sehbehinderung inklusiv zu beschulen. Aber es gibt Fälle, wo es nicht einfach ist, auch wenn ich den Willen dazu habe und als Regierungsrat dahinter stehe.
Barbara Müller: Da ich persönlich mit der IV eine praktisch permanente Auseinandersetzung um die mir zustehenden Hilfsmittel habe, ist das Thema Sozialleistungen für mich persönlich und in meiner politischen Arbeit omnipräsent. In der politischen Diskussion im Parlament und mit meinen Parteikollegen ist der Spardruck das grösste Thema in der Debatte. Inklusion oder Integration wird praktisch nie in Frage gestellt, aber die Umsetzung ist dann eine andere Sache. Als betroffene Person ist es für mich insofern einfacher, als ich im persönlichen Gespräch aus meiner Perspektive berichten kann und sich so Meinungen leichter verändern als in abstrakten Diskussionen.
Nina Hug: Haben Sie in ihrer politischen Position Nachteile gehabt auf Grund Ihrer Sehbehinderung?
Manuele Bertoli: Es ist ein bisschen paradox. Heute ist es einfacher für mich als früher. Als Regierungsrat habe ich Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Natürlich nicht mehr als andere Regierungsräte auch. Aber als Parlamentarier hatte ich keine Unterstützung durch Angestellte. Ich musste mich selbst organisieren. Heute sind viele Dinge einfacher, weil ich mir von meinen Mitarbeitern helfen lassen kann und diese Hilfe nicht noch organisieren muss.
Der einzige Nachteil, der aber auch ein Vorteil sein kann, ist dass ich nicht aus Manuskripten vorlesen kann. Das ist ein Nachteil, weil es mich für längere Reden viel Zeit kostet, mich vorzubereiten und die wichtigen Dinge auswendig zu lernen. Aber mit der Zeit habe ich meine Technik und auch eine Fähigkeit entwickelt, frei zu reden. Und manchmal ist es auch ein Vorteil, weil es kürzer ist und direkter.
Barbara Müller: Ich habe meine Sehbehinderung nie an die grosse Glocke gehängt. Bei der ersten Wahl in den Kantonsrat, 2012 hat wahrscheinlich nur ein Bruchteil der Wählerinnen und Wähler gewusst, dass ich sehbehindert bin. Jetzt, durch meine Auseinandersetzung mit der IV, wissen es natürlich mehr Menschen. Aber ich denke es ist kein Nachteil.
Nina Hug Herr Bertoli, haben Sie ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auf eine bestimmte Art und Weise vorbereitet auf die Tätigkeit bei Ihnen, im Hinblick auf den Umgang mit der Sehbehinderung?
Manuele Bertoli: Nein. Als ich gewählt wurde, war nicht klar, welches Departement ich bekomme. Das ist ja eine Entscheidung der Regierung. Und man übernimmt dann das Personal des jeweiligen Amtes. Als ich hier angekommen bin, hatte ich zwei Sekretärinnen. Eine der beiden war sehr besorgt. Sie wusste nicht wie das gehen kann, bei einem blinden Regierungsrat zu arbeiten. Ich habe ihr gesagt: Schau, wir machen eine Einführung und heute in zehn Tagen klappt das einwandfrei. Und so war es. Denn heute mit dem digitalen Ablagesystem, mit dem Voice Over etc. ist für mich fast alles möglich. Ich habe ein Papierloses Büro. Die wenigen Zettel, die Sie hier sehen, sind Dinge die per Post gekommen sind. Alles was meine Sekretärinnen mir notieren, notieren sie digital und legen es in die vorgegebene Ordnerstruktur ab. So finde ich auch alles wieder.
Nina Hug: Glauben Sie, dass sie als öffentliche Persönlichkeit zur Sensibilisierung der Menschen für die Bedürfnisse von Menschen mit Sehbehinderung beitragen? Hilft es der Sache, wenn es mehr Politiker oder öffentliche Persönlichkeiten gäbe mit einer Behinderung?
Barbara Müller: Menschen mit einer Behinderung haben jahrzehntelang versteckt gelebt. Sei es, weil sie sich selber geschämt haben oder weil ihre Familien sie verstecken wollten. Ich denke es ist höchste Zeit, dass Menschen mit einer Behinderung auch politische Ämter übernehmen, um sich für die Gesellschaft einzusetzen. Nicht per se, um sich für die Rechte von Menschen mit Behinderung zu engagieren, sondern als Teil der Gesellschaft, in der sie für eine politische Position einstehen wollen. In einem solchen Sinn bin ich gerne Vorbild für andere, sich etwas zuzutrauen und zu zeigen: eine Sehbehinderung ist kein Hinderungsgrund.
Manuele Bertoli: Ich denke, es ist gut, wenn Menschen mit einer Behinderung in der Politik oder in anderen Bereichen Verantwortung übernehmen. Das zeigt, dass es eine effektive Integration in der Gesellschaft gibt. Ich weiss allerdings nicht ob es wirklich hilft, dass die Leute wissen, wie man sich blinden Menschen gegenüber verhält. Menschen, mit denen ich enger zusammen arbeite und die mir häufig begegnen, sind sicher sensibilisiert, zum Beispiel alle Parlamentarier und die Mitarbeiter im Regierungsgebäude.
Aber die Menschen, denen ich zum Beispiel auf dem Trottoir begegne und die mit mir reden, bei denen weiss ich nicht, ob sie sensibilisiert sind allein durch die Tatsache, dass ich vor ihnen stehe und mit ihnen rede. Manchmal haben die Leute auch Angst mit mir zu reden, weil ich blind bin. Und es gibt noch etwas: wenn ich an einem Ort bin mit vielen Menschen, dann kann ich nicht einfach auf die Leute zugehen, die ich treffen will. Ich brauche jemanden, der mich zu der Person, die ich treffen will, führt. Dann gibt es in solchen Gruppen Menschen, die mich nicht sprechen möchten und meinen ich könne sie ja nicht sehen. Aber ich höre sie – über weitere Distanzen als sie meinen (lacht).