Plattform: Das Leben eines Blindenführhundes vor und nach seiner Einsatzzeit
Aufenthalt in der Patenfamilie: eine entscheidende Phase
In der Schweiz gibt es vier Blindenführhundeschulen. Ihre Aufgabe ist es, Hunde so auszubilden, dass sie blinde oder sehbehinderte Menschen während des Grossteils ihres Lebens begleiten können. Doch wie sieht eigentlich das Leben dieser Hunde vor und nach ihrer Einsatzzeit aus? Um das herauszufinden, hat sich tactuel mit Frau Christine Baroni-Pretsch, Leiterin der Fondation romande pour chiens guides d’aveugles, unterhalten.
Von Carol Lagrange
Frau Baroni-Pretsch: Welches sind die wichtigsten Phasen im Leben eines Blindenführhundes?
Aus unserer Sicht beginnt die erste Phase bereits vor der Geburt des Führhundes. Wir haben seit zwanzig Jahren ein eigenes Zuchtprogramm, um sicherzustellen, dass unsere Labrador-Retriever die notwendigen Charaktereigenschaften eines Blindenführhundes erfüllen. Nach einer Trächtigkeit von sechzig Tagen kommen die Welpen zur Welt. Sie bleiben während neun Wochen auf der Zuchtstation und kommen dank der freiwilligen Helfer und Helferinnen bereits in Kontakt mit Menschen. Sie sind für die Frühsozialisierung der Welpen verantwortlich. Schon im Alter von sieben Wochen werden die Hunde von den Zuchtverantwortlichen einem Wesenstest unterzogen, um herauszufinden, wem sie später am besten zugeteilt werden sollen. Ab der neunten Woche werden die Welpen während 15 bis 18 Monaten bei Patenfamilien untergebracht. Nach dieser Zeit kehren die Hunde zur Fondation zurück, wo sie während zwei bis drei Wochen verschiedenen Situationen ausgesetzt und beurteilt werden. An diesem Punkt wird über die Karriere der Hunde entschieden. Die besten unter ihnen (weniger als 10%) werden ins Zuchtprogramm aufgenommen. Einige werden zu Assistenzhunden ausgebildet oder kommen in Familien, und einer von zwei Hunden kann mit der Ausbildung zum Führhund beginnen. Während der Ausbildung von zehn bis zwölf Monaten ist der Labrador einem Instruktor oder einer Instruktorin zugeteilt. Am Ende seiner Ausbildung muss der Blindenführhund eine interne Prüfung ablegen, gefolgt von einer weiteren Prüfung, die von einer Fachperson der IV abgenommen wird. Besteht er beide Prüfungen, begibt sich der Instruktor mit dem Hund zwecks eines Einführungskurses an den Wohnort des künftigen Halters, wo während drei Wochen sechs bis sieben Stunden täglich trainiert wird. Nach sechs Monaten führt eine vom BSV beauftragte Fachperson in Anwesenheit des Instruktors eine Prüfung mit dem Hund und seinem Halter durch. Danach ist der Hund für lange Zeit, etwa elf bis zwölf Jahre, im Einsatz. Tritt der Hund in den Ruhestand, so besteht die Möglichkeit, dass der Halter oder ein Angehöriger ihn als Begleithund behält oder er in einer Gastfamilie platziert wird. Mittelfristig planen wir auch die Schaffung eines Ortes, an dem diese betagten Hunde ihren Lebensabend verbringen können.
All diese Phasen sind zweifelsohne von grosser Bedeutung im Leben eines Hundes. Aber kommen wir nochmals auf die Zeit bei der Patenfamilie zurück. Welche Voraussetzungen muss man mitbringen, um einen Welpen während mehr als einem Jahr aufnehmen zu können?
Vor allen Dingen ist eine hohe Verfügbarkeit gefragt, denn diese Hunde dürfen nicht allein sein. Das heisst, der Hund muss die Familie ständig begleiten können: wenn nötig zur Arbeit, in die Ferien, ins Kino, beim Benutzen des ÖV usw. Die Patenfamilien verpflichten sich auch, sich zweimal pro Woche in eine Stadt mit mindestens 10’000 Einwohnern zu begeben und dort den öffentlichen Verkehr zu nutzen, damit sich der Hund an den Lärm und an das Reisen gewöhnt. Besondere Erfahrung wird nicht vorausgesetzt, zumal die Familien entsprechend geschult und während des gesamten Aufenthalts des Hundes eng begleitet werden. Es ist in der Regel auch nicht problematisch, wenn die Familie bereits andere Haustiere hat. Handelt es sich jedoch um einen anderen Hund, müssen wir von der Fondation erst beurteilen, ob das Wesen dieses Hundes insgesamt den Wesenszügen entspricht, die ein Blindenführhund aufweisen sollte, sodass Letzterer auch wirklich die Möglichkeit hat, sein Potenzial als Führhund voll zu entfalten. Schliesslich muss man das 18. Altersjahr vollendet haben und in guter körperlicher Verfassung sein, um die Patenschaft für einen Welpen übernehmen zu können.
Haben diese Familien eine Funktion bei der Erziehung der Blindenführhunde?
Die Patenfamilien haben während 15 bis 18 Monaten eine sehr grosse Verantwortung, denn in dieser Phase festigen sich die Gewohnheiten des Hundes. In erster Linie fällt den Familien die Grunderziehung zu. Sie müssen dafür sorgen, dass der Hund stubenrein wird und auf Befehl an der Leine sowie auf Dolendeckeln sein Geschäft verrichten kann. Darüber hinaus müssen sie ihm auch beibringen, auf einfache Befehle wie «Sitz!», «Platz!», «Fuss!», «Bleib!» zu hören und zu apportieren. Das Hochspringen sein lassen, nicht bellen, geduldig sein und ohne zu ziehen an der Leine gehen, ist Teil des Sozialverhaltens, das ein künftiger Führhund aufweisen muss. Die Familien verpflichten sich ferner zu Routinebesuchen beim Tierarzt. Nebst diesen Erziehungsgrundsätzen müssen die Familien den Hund auch mit ganz verschiedenen Alltagssituationen konfrontieren. Sie müssen mit ihm die öffentlichen Verkehrsmittel benutzen, Fussgängerstreifen gerade überqueren, in Einkaufszentren gehen, Treppen steigen, mit dem Lift fahren, ins Theater gehen und ihm beibringen, keine Ding vom Boden aufzuheben, damit er nicht von seiner Aufgabe abgelenkt ist. All diese Pflichten werden natürlich in einem Vertrag festgehalten, den wir mit unseren Patenfamilien abschliessen.
Wie läuft anschliessend die Übergabe von der Patenfamilien an die Stiftung ab?
Das ist natürlich oft ein emotionaler und schwieriger Moment, und in gar keinem Fall darf man das unglaubliche Engagement der Familien während dieses vorab definierten Zeitraums unterschätzen. Wenn ein Hund mit der Ausbildung beginnt, wird der Instruktor oder die Instruktorin die Familie in der Regel telefonisch über das Befinden des Hundes informieren und sie nach Absolvieren der beiden Prüfungen auch dazu einladen, vorbeizukommen und sich ein Bild darüber zu machen, was der Hund alles gelernt hat. Dieses Wiedersehen beschränkt sich jedoch auf das eine Mal, denn wir möchten sowohl für den Hund als auch für die Familie Stresssituationen vermeiden.
Sie sagten, dass einer von zwei Hunden danach die Ausbildung zum Blindenführhund beginnt, bevor er dann für rund zehn Jahre einer blinden oder sehbehinderten Person anvertraut wird. Kann der Hund nach dem Übertritt in den Ruhestand zur Patenfamilie zurückkehren?
Das ist eine Möglichkeit, kommt aber recht selten vor. Zwischenzeitlich sind ja mehr als zehn Jahre vergangen und die Patenfamilie kann vielleicht nicht mehr dieselbe Verfügbarkeit wie früher bieten. Normalerweise sind es andere Gastfamilien, die sich der betagten Hunde annehmen. Letztere haben keine besonderen Bedürfnisse, ausser dass man sie nicht zu lange allein lassen sollte, da sie das Alleinsein nicht gewohnt sind.
Wir haben nun etwas über den grossen Einsatz und die Verantwortung einer Patenfamilie während dieser Zeit erfahren. Gibt es etwas, das Sie noch anfügen möchten?
Ja. Ich fände es schön, wenn die Familien nicht immer nur gefragt würden, ob es denn nicht sehr hart sei, den Hund zurückgeben zu müssen, sondern wenn sie auch einfach mal ein Dankeschön für ihre ausserordentliche Solidarität erhielten!
Vielen Dank für dieses Gespräch!
Kasten:
Auch die Blindenführhundeschulen in der Deutschschweiz sind immer auf der Suche nach freiwilligen Patenfamilien, die während rund 15 Monaten einen Welpen bei sich aufnehmen.
Interessierte können die Schulen wie folgt kontaktieren:
Stiftung Schweizerische Schule für Blindenführhunde in Allschwil, www.blindenhundeschule.ch, Tel. 061 487 95 80. Spezielle Führung auf Anmeldung jeden ersten Samstag im Monat.
Verein für Blindenhunde und Mobilitätshilfen VBM in Liestal, www.blindenhund.ch, vbm@blindenhund.ch
Stiftung Ostschweizerische Blindenführhundeschule (OBS) in Goldach, www.o-b-s.ch, info@obs.ch