Der Preis Canne blanche 2020 geht an die von der SBB entwickelte App SBB-Inclusive, eine App, die Bahnreisenden mit Blindheit und Sehbehinderung wertvolle Informationen liefert über Zuganschlüsse, Position im Zug oder auf dem Perron, Verbindungen etc.. Die App setzte sich im Publikumsvoting gegen das Projekt „Haptic Touch Panel“ von Schindler Aufzüge AG und das Lehrbuch „Punkt, Punkt, Komma, Strich“ durch. Der Preis wird am 17. September in Zürich verliehen.

Von Andrea Eschbach, SZBLIND

Eine Person sitzt in einem Zug mit einem Smartphone in der Hand. Der Bildschirm ist auf den weissen Schreibmodus auf schwarzem Hintergrund eingestellt.
Bild: SBB

Die App SBB-Inclusive überzeugte die Leserinnen und Leser von www.blick.ch und www.lematin.ch und setzte sich mit 1252 Stimmen gegen die Projekte „Haptic Touch Panel“ der Schindler Aufzüge AG (654 Stimmen) und das Braille Lehrbuch „Punkt, Punkt, Komma, Strich“ (447 Stimmen) durch. Die Fachjury ist der Meinung, dass die Kundeninformation-App „SBB Inclusive“, die zusammen mit blinden Menschen entwickelt wurde, eine grosse Lücke im Informationssystem der SBB schliesst. „Betroffene Reisende kommen nun durch die App zu wichtigen Informationen auf Bahnhöfen, die ihnen bisher nicht zugänglich waren. Sie unterstützt das selbständige Reisen blinder und sehbehinderter Menschen nachhaltig und ist ein inklusives Projekt“.

Alle drei Projekte haben gemeinsam, dass sie auf innovative Art und Weise, zukunftsgerichtet, das Leben von Menschen mit Blindheit und Sehbehinderung in der gesamten Schweiz erleichtern und Inklusion fördern. Wie sie dies erreichen, stellen wir Ihnen nachfolgend vor.

Kundeninformations-App „SBB Inclusive“

Blinde, sehbehinderte und taubblinde Menschen sind mehr als andere auf den öffentlichen Verkehr angewiesen und nutzen deshalb auch entsprechend oft den Zug. Diese Menschen müssen sich auf Reisen gut vorbereiten und sind besonders auf zuverlässige Zugsinformationen angewiesen. Am Bahnhof werden ihnen aber oft nur wenige akustische Informationen zur Reise angeboten.

Auch blinde und sehbehinderte Reisende wollen stets gut informiert sein. Dafür sorgt die neu entwickelte App SBB Inclusive. Sie ermöglicht ein entspannteres Reisen dank digitaler Kundeninformation. Mit ihr können sich Menschen z.B. den Abfahrtsanzeiger auf ihrem Handy via Sprachprogramm Voice-Over vorlesen lassen oder sich informieren, welches die nächsten Abfahrten ab einem Perron sind, welchen Zug sie betreten, in welchem Wagen und in welcher Servicezone des Zuges sie sich gerade befinden, welches der nächste Bahnhof sein wird, den der Zug anfährt und vieles mehr.

Für die Identifikation der einzelnen Wagen des Zuges wird die Beacon-Technologie genutzt. Mit Beacon wird ein Sender oder Empfänger bezeichnet, der auf der Bluetooth Smart Technologie basiert. Jeder Wagen ist mit einem Beacon ausgestattet, der mit dem Smartphone des Reisenden kommuniziert und so die Position im Zug anzeigt. Zum Beispiel «IC5 nach Lausanne, Sie befinden sich im Wagen 5 in der 1. Klasse, Businesszone, Ruhezone». Angegeben wird der Fahrtverlauf mit sämtlichen Zwischenhalten des Kurses. So erhält der Fahrgast zum Beispiel beim Einsteigen die Information: „Nächster Halt: Olten um 12:20“.

Zwischen Mai und November 2019 wurde die App von rund 50 sehbehinderten und blinden Personen ausprobiert und für gut befunden. Besonders geschätzt wurde, dass die App einfach aufgebaut und für VoiceOver optimiert wurde. Durch die App erhielten die sehbeeinträchtigten Testerinnen und Tester erstmals direkten Zugang zu der für Normalsehende alltäglichen optischen Kundeninformation (Bildschirme) am Bahnhof bzw. an und in den Zügen. Die Verfügbarkeit der Kundeninformation wird dank dieser neuen App erhöht. Irrfahrten und verpasste Züge aufgrund von unzureichender akustischer oder optisch schlecht erkennbarer Kundeninformation gehören dann hoffentlich der Vergangenheit an. Die App wird auf den Fahrplanwechsel im Dezember 2020 allen Reisenden zur Verfügung stehen.  

„Haptic Touch Panel“ von Schindler Aufzüge

Stellen Sie sich vor: Sie sehen nichts, stehen in einem Lift und wollen die gewünschte Etage auf dem Bedienelement antippen. Sie fühlen nur eine flache Glasscheibe, aber keine tastbaren Knöpfe, an denen man sich orientieren könnte. Sogenannte Touchscreens sind eine unüberbrückbare Hürde für blinde und sehbehinderte Menschen. Schindler Schweiz AG hat sich dieser Problematik angenommen und nun in umfassender Entwicklungsarbeit einen barrierefreien „Haptic Touch Panel“ entwickelt. Dieses Bedienelement erkennt anhand der Fingerbewegungen auf dem Panel, ob jemand sich sofort orientieren kann oder ob er die Tasten suchen muss. Erkennt das Panel, dass die Tasten gesucht werden müssen, werden Tastenbegrenzungen fühlbar und die Tasten können so ertastet werden. Die Zehnertastatur bietet eine vertraute Handhabung und hohe Blendfreiheit. Zudem wird akustisch und mit Vibration angezeigt, welche Taste gerade berührt wird. Das Panel passt sich also dem Benutzer oder der Benutzerin individuell an. Ausserdem ist es mit Markierungen in Blindenschrift versehen. Das Display kann neben Zahlen auch grafische Symbole anzeigen und ist damit für Fremdsprachige ebenso bedienbar wie für Kinder, die noch nicht lesen können oder beispielsweise für Menschen mit Demenz.

Bei der Entwicklung des Panels setzte Schindler auf den engen Austausch mit sehbehinderten und blinden Personen. Die Bedürfnisse, Wünsche und Rückmeldungen der Begleitgruppe flossen direkt in den Gestaltungsprozess. Das Resultat dieser organischen und praxisorientierten Entwicklung ist das «Haptic Touch Display». Es übertrifft die aktuellen rechtlichen Normen und Vorgaben bezüglich Barrierefreiheit bei weitem. Als klare und einheitliche Lösung macht es das Liftfahren für alle einfach.

Die Fachjury ist überzeugt, dass diese Entwicklung eine grosse Barriere für blinde und sehbehinderte Menschen abbaut und grosses Potenzial hat, auf für andere Bereiche (z.B. Tauchscreen-Bedienelemente bei Haushaltgeräten) angewandt werden zu können, was den Alltag betroffenen Menschen sehr erleichtern würde.

Lehrbuch „Punkt, Punkt, Komma, Strich“

„Punkt, Punkt, Komma, Strich“ ist ein neues Lehrbuch, das gemeinsam von blinden und von sehenden Kindern gelesen werden kann. Es wurde vom Verein PPKS zusammen mit der Hochschule der Künste Bern und der Pädagogischen Hochschule Heidelberg/ Blindenpädagogik entwickelt und eingegeben. Der Schulverlag Plus AG Bern konnte vom Projektteam als Verlagspartner gewonnen werden. Mit dem Lehrbuch werden blinde und hochgradig sehbehinderte Kinder spielerisch an die Blindenschrift herangeführt. Der Text ist mit Blindenschrift und in Schwarzschrift gestaltet, sodass das Buch von Kindern mit Sehbeeinträchtigungen wie auch von sehenden Kindern gemeinsam gelesen und erkundet werden kann.

Auf dem aktuellen deutschsprachigen Lernmittelmarkt sind keine Fördermaterialien für den privaten Erwerb erhältlich, welche blinde und sehbehinderte Kinder zusammen mit ihrem sehenden Umfeld an die Blindenschrift heranführen. In zwei Forschungsprojekten wurden die Grundlagen für eine Fördermittelreihe zur Heranführung an die Blindenschrift für blinde, hochgradig sehbehinderte und sehbehinderte Kinder im Vorschulalter in neun Bänden geschaffen. Die Bände bauen inhaltlich aufeinander auf und jeder Band ist inhaltlich in sich abgeschlossen. Als Gesamtpaket sind die Hefte unter dem Titel «Punkt für Punkt: Lernabenteuer mit Alex und Lilani» zusammengefasst.

Das Materialpaket entspricht den Anforderungen an einen modernen, handlungsorientierten Schriftspracherwerb. Zugleich ermöglichen die Lernmittel blinden und sehbehinderten Kindern eine gleichberechtigte Teilhabe an elementaren Bildungsprozessen. Der Fachjury hat gefallen, dass das Buch ein Zusammensein von blinden und sehenden Kindern ermöglicht sowie den Zugang zur Blindenschrift erleichtert.

Box: Abstimmungsprozess mit Fach- und Publikums-Jury

Stolze 25 Projekte waren für den Preis „Canne blanche“ 2020 insgesamt eingereicht worden. Daraus hatte im Mai eine Fachjury drei Projekte ausgewählt. Die Fachjury wurde geleitet von Thomas Dietziker, Präsident des SZBLIND. Zu den Jurorinnen und Juroren zählten zudem Matthias Bütikofer, Geschäftsleiter des SZBLIND, Christian Hugentobler, Vizepräsident des SZBLIND, Olivier Blaser, Direktor Centrevue Neuchâtel, Alexandra Fitz, Stv. Leiterin SonntagsBlick-Magazin, Roland Gruber, Beratung/Öffentlichkeitsarbeit CAB, Jonas Pauchard, Sachbearbeiter Eidg. Hochschulinstitut für Berufsbildung und Bernhard Russi, ehemaliger Skirennfahrer.

Ende Juni konnten dann die Leserinnen und Leser von www.blick.ch und www.lematin.ch ihr Siegerprojekt bestimmen. Ein Novum in der Geschichte des Preises Canne blanche. Am 17. September wird der Gewinner im Zürcher Kulturhaus Kosmos gekürt, umrahmt von einem festlichen Programm. Der Preis wird unterstützt von Visilab SA.