„Ich kann auf meine Kollegen zählen“
Infolge gesundheitlicher Probleme vor vier Jahren verlor Sébastien Piguet plötzlich sein Augenlicht und kann heute nur noch Umrisse erkennen. Der ausgebildete Informatiker musste daher lernen, seinen Beruf auf andere Weise auszuüben.
von Carol Lagrange
Ende 2016 hatte Sébastien Piguet mit schweren gesundheitlichen Problemen zu kämpfen. Die zur Heilung seiner Krankheit angewandte Behandlungsmethode hat seine Sehfähigkeit irreversibel geschädigt, sodass der 32-jährige Waadtländer Informatiker heute nur noch Umrisse erkennen kann. Es dauerte rund zwei Jahre, bis Sébastien Piguet die nötige Grundlage erworben hatte, um seinen Beruf auf andere Weise auszuüben. Zuerst eignete er sich während eines Jahres am Centre pédagogique pour handicapés de la vue (CPHV) die Brailleschrift an, mit der er für die Ausübung seines Berufes wichtige Zeichenkombinationen wiedergeben kann. Parallel dazu erlernte er während drei Monaten den Umgang mit Software-Tools und diversen für seine Arbeit notwendigen Programmen sowie verschiedene Tastenkürzel. Ein Unternehmen hat für ihn spezielle Programme installiert und auch die Sprachausgabefunktion an diese angepasst.
Nachdem Sébastien Piguet all diese neuen Kenntnisse erworben hatte, begann er im Frühling 2018 ein von der Invalidenversicherung bei der Firma Aquama organisiertes Berufspraktikum mit einem Pensum von 30 %. Aquama, für die er bereits vor seiner Sehbehinderung auf Mandatsbasis tätig war, produziert mittels Hydrolyse umweltfreundliche Desinfektions- und Reinigungsmittel. Das CPHV begleitete ihn während des Praktikums und organisierte Mobilitätskurse für ihn, damit er sich mit seinem Arbeitsweg vertraut machen und lernen konnte, mit welchen öffentlichen Verkehrsmitteln er so sicher wie möglich ins Büro kommt. Weiter klärte eine Low-Vision-Spezialistin seinen Arbeitgeber über die grundlegenden Dinge auf, die es bei der Beschäftigung einer sehbehinderten Person zu beachten gilt. Da die Kontraste in den Büros bereits recht gut zu erkennen waren, gab es diesbezüglich keine speziellen Anpassungen vorzunehmen.
Der Arbeitgeber von Sébastien Piguet wusste bereits über dessen Sehbehinderung Bescheid, weshalb kaum noch Erklärungsbedarf bestand. Allerdings weist Sébastien systematisch alle neu eingestellten Mitarbeitenden auf seine Sehbehinderung hin. Manchmal ruft er seinen ArbeitskollegInnen seine Sehbehinderung wieder in Erinnerung, um sicherzustellen, dass sein Weg zum Arbeitsplatz im Unternehmen stets hindernisfrei ist. Die ArbeitskollegInnen haben bis jetzt immer positiv auf ihn reagiert und zeigen sich im Allgemeinen auch nicht überrascht, zumal sein Chef BewerberInnen für eine neue Stelle bereits beim Vorstellungsgespräch darauf aufmerksam macht, dass eine sehbehinderte Person im Unternehmen tätig ist. «Meine ArbeitskollegInnen sind äusserst hilfsbereit», sagt er. «Ich kann darauf zählen, dass sie zum Beispiel am Mittag mit mir kommen, um etwas zu essen zu kaufen oder mich zu Hause abholen, um mich ins Büro zu begleiten.»
Sébastien Piguet sagt, dass er nach wie vor dieselbe Tätigkeit ausübe wie früher, nur eben auf eine andere Weise. Er übernimmt zwar weniger technische Aufgaben und ist weniger in die Softwareentwicklung involviert, dafür übernimmt er in anderen Bereichen Verantwortung, zum Beispiel in der Lehrlingsbetreuung. «Ich muss meinen Beruf neu erfinden», meint er abschliessend.