„Noch Monate später tat mir der Daumen weh“
Vom ersten barrierefreien Videogame berichtet Daniele Corciulo.
Daniele Corciulo hat gemäss eigenen Angaben ein Sehvermögen von 1,5 Prozent – so erkennt er Farben, Schatten oder Umrisse. Seine Leidenschaft sind Videogames – die primär auf visuellen Eindrücken basieren. Wie geht das zusammen? Bisher hat Daniele Videogames fast ausschliesslich mit sehenden Freunden spielen können Mit Aufkommen von Virtual Reality ist die Gaming-Szene jedoch in Bewegung geraten und es tuen sich neue Möglichkeiten barrierefreier Spiele auf. Welche Spiele Menschen mit Sehbehinderung und Blindheit spielen können und was von neuen Spielen zu erwarten ist, hat tactuel erfragt.
Hinweis: Auszüge des Interviews wurden veröffentlicht im Beobachter (12.3.21)
Von Nina Hug
Tactuel: Daniele, Sie sind Fachperson für digitale Zugänglichkeit (e-Accessibility) und passionierter Gamer. Welches ist ihr Lieblingsspiel?
Daniele Corciulo: Letzten Sommer kam das Game «The Last of Us Part II» heraus. Als ich das Game das erste Mal spielte, konnte ich mein Glück kaum fassen. Es ist das erste und bisher einzige Game, das ich allein spielen kann. Und es ist gut, komplex. Ich habe zwei Wochen lang jeden Abend gezockt. Noch Monate später tat mir der Daumen weh. Zum Glück habe ich eine sehr tolerante Partnerin. Normalerweise legen wir unsere Handys um 20 Uhr weg und unternehmen zusammen etwas. Aber da herrschte Ausnahmezustand.
Tactuel: Was macht dieses Spiel aus?
DC: „The last of us Part II wurde als das zugänglichste Spiel aller Zeiten angepriesen, das auch Menschen mit Handicap spielen können. Es wurde von einem Blinden mitentwickelt, der noch eine Sehkraft von3 bis 4 Prozent hat. Das gilt in den USA als offiziell blind. Ich hingegen sehe nur 1,5 Pro-zent. Daher war ich zunächst skeptisch. Zu oft schon habe ich mich auf ein angeblich barrierefreies Spiel gefreut und wurde dann enttäuscht. Umso grösser war dann meine Begeisterung, als ich „The last of“ das erste Mal spielte. Im Spiel zeigen mir Audiosignale an, in welche Richtung ich gehen muss, wann ich klettern oder mich ducken soll oder wenn es Gegenstände gibt zum Interagieren. Gegner erledige ich dank der automatischen Zielerfassung. So kann ich mich auf Augenhöhe mit Spielern austauschen, die kein Handicap haben, aber das Gleiche erleben. Ob ich sehe oder nicht, ist für einmal egal – ich kann mitreden.
Tactuel: Was hat sich für Sie mit „The last of us II“ verändert?
DC: Für mich ist es unbeschreiblich, endlich selber bestimmen zu können, wann und wie lange ich spiele, weil ich niemanden brauche, der mir dabei hilft und mich durchs Game oder durchs Menü führt. Ich bin sogar Teil einer kleinen Community geworden. Wir haben spasseshalber auch schon ein «Mario Kart»-Rennen ausgetragen. Da habe ich dann natürlich keine Chance. Doch es geht ums Dabeisein. Genau wie früher, als ich mit meinem Cousin in den Ferien in Italien durch die Spielhöllen gezogen bin, von Arcade-Kasten zu Arcade-Kasten. Er bediente den Stick, ich die Knöpfe. Auch Flippern mag ich – da spüre ich die Vibrationen. Natürlich habe ich auch da keine Chance, gegen Sehende zu gewinnen. Es geht darum, dazu zu gehören. Dieses Gefühl habe ich an der Konsole zum ersten Mal erlebt.
Tactuel: Welche Möglichkeiten haben die Entwickler von „The last of us II“genutzt, um das Spiel barrierefrei zu gestalten?
DC: Im Spiel „The last of us Part II sind über 60 verschiedene Einstellungen implementiert, die das Gamen für alle möglich machen. So sind alternative Steuerungsmöglichkeiten programmiert und man kann alle Knöpfe des Controllers neu zuordnen. Ausserdem ist es möglich, Farben, Kontraste, Texte und die ganze Benutzeroberfläche individuell anzupassen. Für mich als blinde Person sind vor allem die Audiohinweise wichtig, die mir sagen, was im Spiel gerade passiert. Um mich durch das Spiel zu bewegen, drücke ich auf den linken Joystick des Controllers, und schon richtet sich die Spielfigur in die Richtung aus, in der es weitergeht. Anschliessend folge ich dem Pfad so lange, bis ein nächster Audiohinweis signalisiert, dass ich mich neu ausrichten muss. Hier kann ich mich wieder neu ausrichten. Ob etwas in der Umgebung auftaucht, mit dem ich interagieren kann, wird über ein Piepsen angezeigt. So gibt es eine Fülle von Audiohinweisen, die für den nicht sehenden Spieler wie visuelle Hinweise funktionieren. Man muss sich bloss einprägen, welches Signal für welche Handlung steht.
Tactuel: An was lag es, dass andere Games bisher nicht barrierfrei waren für Sie?
DC: es gibt sicher etliche Spiele, die für bestimmte Gruppen barrierefrei sind. Aber eben nicht für alle. Wenn ich ein Spiel mache mit Untertiteln, dann ist das für Gehörlose barrierefrei. Wenn man Texte und Ansichten vergrössern kann, ist es für sehbehinderte Menschen barrierefrei. Aber eben nicht für mich. Mit einem Sehrest von 3-4% kann man beispielweise Mario Cart spielen oder auch Resident evil VI. Ich komme in die Games auch hinein, weil die Menüführung mit Sprachausgabe ist. Aber dann hört es auf. Und dann gibt es Spiele, die haben Elemente, die ich nutzen kann, sind technisch aber schlecht umgesetzt. Beim Spiel Spiderman zum Beispiel ist die Ausrichtung der Figur so schlecht umgesetzt, dass man nicht an die Objekte herankommt, die man sich holen müsste.
Tactuel: Wo kann man sich als blinder oder sehbehinderter Gamer informieren, was auf dem Markt ist und zugänglich ist?
DC: Es gibt einige englischsprachige Internetforen, in denen man sich informieren kann. Aber da in den USA ein Sehrest von 3-4% als legally blind gilt, muss man manchmal aufpassen, was die Barrierefreiheit betrifft. Ein bekannter blinder Gamer ist Steve Sailor. Er beurteilt viele Spiele aber er hat eben noch einen grösseren Sehrest als ich. Wenn er etwas bedienen kann, dann ist das noch nicht barriefrei. Wenn ich bei meiner Arbeit Internetseiten auf Barrierefreiheit teste, dann gehe ich nicht von mir aus, sondern von internationalen Standards. Die sind im Bereich Gamen noch nicht festgelegt.
Tactuel: welche Entwicklungen zeichnen sich ab?
DC: Es ist definitiv etwas in Bewegung. Aber es braucht eben das Wissen, und den Willen, etwas barrierefrei zu designen. Wenn man die Barrierefreiheit von Anfang an mitdenkt, entstehen Mehrkosten von 10-20%. Auch Sehende sagen, dass Funktionen, die ein Spiel barrierefrei machen, ihnen nützlich sind. Wenn wir die Entwickler dafür sensibilisieren können, ist Vieles möglich. Begeistert bin ich vom neuen Controller für die Playstation 5. Durch Vibrationen spüre ich, auf welcher Art von Untergrund man im Game läuft oder ob man etwas aus Gummi oder Glas anfasst. Das ist der Hammer. Hoffentlich wird das in ein paar coolen Games vernünftig eingebaut. Die Playstation 5 hat ausserdem nun eine Sprachausgabe im Menü. Jetzt fehlen hier nur noch die Games dazu. Sonst ist – wenn man die Anwendung startet – dann Tote Hose…
Tactuel: was entgegnen Sie Menschen, die meinen, Videogames sind nichts Blinde?
DC: Es ist falsch wenn man sagt, dass blinde Menschen Videogames nicht spielen können. Gerade Jüngere blinde Menschen möchten dabei sein können. Ausserdem werden sie motiviert, zum Beispiel besser englisch zu lernen, weil die meisten Games auf Englisch sind. Auch wird die Fingerfertigkeit trainiert und man lernt Rätsel zu lösen und logisch mitzudenken. Videogames sind also, in Massen gespielt, nicht zu verteufeln.