Neue Gebärden lernen trotz Hörsehbehinderung
Pilot-Kurs des SZBLIND mit speziell angepasster Methodik und Didaktik.
Sprache verändert sich. Laufend werden neue Dinge benannt und wir reden heute anders als noch vor ein paar Jahren. Neue Dinge werden natürlich auch in Gebärdensprache benannt. Für viele sehbehinderte gehörlose Gebärdensprach-Nutzerinnen und Nutzer ist es auf Grund des eingeschränkten Sehpotentials schwierig, neue Gebärden zu lernen. Ein Kurs der Beratungsstellen für hörsehbehinderte und taubblinde Menschen ermöglicht Betroffenen das Erlernen neuer Gebärden mittels auf sie angepasster Methodik und Didaktik.
Von Mäde Martha Müller, Leiterin Fachbereich Rehabilitation, Beratungsstellen für hörsehbehinderte und taubblinde Menschen, SZBLIND
Um Gebärdensprachpartnern oder Dolmetschern folgen zu können, muss man zum Beispiel wissen, wie INSTAGRAMM, BITCOIN ODER VEGAN gebärdet wird. Auch die Gebärden-Namen neuer Bundesräte oder von bekannten Personen wie Roger Federer, müssen erlernt werden.
Gehörlose Gebärdensprach-Experten entscheiden, welche Begriffe oder Gebärden-Namen am besten zu diesen bekannten Personen passt. Diese Experten-Gruppe trifft sich regelmässig, um neue Gebärden zu definieren. Danach werden diese Gebärden ins öffentlich zugängliche Gebärden-Lexikon aufgenommen und auch an die Dolmetscherinnen weitergleitet. https://signsuisse.sgb-fss.ch/de/
Die Schwierigkeit für hörsehbehinderte Menschen, neue Gebärden zu erlernen, liegt darin, diese visuell zu erfassen. Hat die betroffene Person zum Beispiel ein eingeschränktes Gesichtsfeld, muss der Gebärdenraum verkleinert werden (visual frame Gebärdensprache). Mundbild und Mimik gehören zur Gebärde. Mit einem tiefen Visus sieht man diese jedoch unscharf. Auch wird es schwierig die Buchstaben des Fingeralphabetes zu unterscheiden. Für das Erkennen der Handform, der Position am Körper und der Bewegung hilft es deshalb, taktil zu gebärden.
So ist 2017 die Idee entstanden, für Klienten der SZBLIND Beratungsstellen für hörsehbehinderte und taubblinde Menschen einen Kurs anzubieten, damit die neuen Gebärden nicht ungesehen an ihnen vorbeigehen. Dieses Pilot-Projekt hat in Zürich gestartet und könnte bei Bedarf auch in anderen Regionen durchgeführt werden.
Methodik und Didaktik wurden in Zusammenarbeit mit einer betroffenen Person, einer Gebärdensprach-Expertin/Ausbildnerin und einer Reha-Fachperson angepasst. Erste Voraussetzung für den Lernerfolg: die Geschwindigkeit des Vorführens der Gebärden muss an die Teilnehmerinnen und Teilnehmer angepasst werden. Denn mit Hörsehbehinderung braucht alles mehr Zeit. Wir sprechen deshalb beim angepassten Zeitbedarf von „Deafblind-Time“.
Um eine Blendung der Teilnehmenden möglichst auszuschliessen und den Kontrast zu erhöhen, sollten alle, auch die Teilnehmenden, uni dunkle Kleidung bis unters Kinn tragen. Die Beleuchtung muss blendfrei eingerichtet werden und es sollte vor einem schwarzen Hintergrund gebärdet werden. Ausserdem muss in der Kleingruppe (maximal 6 TN) unterrichtet werden, so dass die Distanz zur Ausbildnerin angepasst werden kann. Jede Teilnehmende erhält zudem je eine gehörlose Begleitperson, welche selber auch sehr gut gebärden kann.
Weil das Fingeralphabet schlecht erkennt werden kann, werden die Wörter, die erlernt werden sollen, während dem Unterricht laufend im Gruppen-Chat auf die Smartphone-Bildschirme der Teilnehmerinnen und Teilnehmer verschickt. So haben alle ihre eigene Schriftgrösse und Kontrast, damit sie das jeweilige Wort lesen können.
Zentral ist das Vorzeigen und Nachmachen der Gebärden: die Ausbildnerin zeigt zuerst die Handform, dann die Position am Körper oder im Raum und danach die Bewegung. Sie zeigt die Gebärde von vorne und von der Seite, damit die Bewegung visuell besser erkannt werden kann, auch wenn kein 3-D Sehen mehr möglich ist. Die Begleitpersonen wiederholen nach Bedarf taktil, damit die Teilnehmenden die Gebärden gut erfahren können.
Um ein Gruppengespräch zu gewährleisten muss die Ausbildnerin das Gesagte des Teilnehmenden wiederholen, damit alle die optimale Sicht auf die gebärdende Person haben.
Beim ersten Kurstag konnten wir viel lernen für die weiteren Kurstage. In den Gruppendiskussionen wurde zunächst mit Stuhlwechsel gearbeitet. Die gebärdende Person musste nach vorne kommen, damit alle einen Blick auf das Gesagte hatten. Dies bewährte sich nicht. Deshalb wurde zum „Papagei“-System gewechselt. Denn der Austausch in der Peer Group ist wichtig und darf nicht verloren gehen.
Die Sitzposition der Begleitperson musste näher sein, als vermutet. Nur 2 von den 6 Personen sehen gut genug, dass sie in der zweiten Reihe sitzen konnten. Beim nächsten Kurstag werden wir weiter ausprobieren: die Ausbildnerin wird mit einem Bürostuhl auf Rollen von einer TN zur anderen fahren, um die neue Gebärde selber exakt taktil vorzuzeigen. Wenn die Sehkraft weiter nachlassen wird, werden wir in zwei Halbgruppen arbeiten.
Die Kurs-Nachmittage machen Spass. Es braucht für alle volle Konzentration. Die Pause ist jedoch nicht nur für die Erholung da, sondern auch für den Austausch unter den Peers.