Möglichkeiten und Grenzen von Bewegung, Spiel und Sport
Anregungen zum einem aktiven Lebensstil mit Sehbehinderung
Eine blinde Jugendliche, die an einer Klettergruppe teilnehmen möchte, muss verschiedene Hürden überwinden: Vielleicht löst sie bei der Gruppenleitung und den anderen Mitgliedern erst einmal allgemeine Berührungsängste aus, wenn diese im Umgang mit Menschen mit Behinderungen nicht vertraut sind. Dann aber kann sie selbst bei den sehenden Kletterern vielleicht existentielle Ängste auslösen: „Kann sie mich sichern, ohne etwas zu sehen?“ „Stellt ihre Sehbehinderung womöglich eine Gefahr für die Gruppe dar?“ Solche Barrieren existieren, aber sie sind tendenziell diskriminierend. Ein wirksames Mittel dagegen sind Kompetenzen, die die blinden oder sehbehinderten Jugendlichen selbst zeigen – zum Beispiel, indem sie relevante Knoten knüpfen oder Sicherungsgeräte kompetent bedienen. Auch wenn gelingende Teilhabe am Sport damit nicht garantiert ist, so ist sie zumindest erleichtert.
von Martin Giese
Bewegung, Spiel und Sport haben in jeder Altersphase einen positiven Einfluss auf die Gesundheit. Das ist unstrittig und durch einen breiten wissenschaftlichen Konsens belegt. Neben dem Gesundheitsaspekt ist aber auch etwas anderes zu bedenken: Sport, bzw. das Beherrschen möglichst vielfältiger motorischer Kompetenzen spielt auch für die individuelle Entwicklung – wie das einleitende Beispiel illustrieren soll – sowie die gesellschaftliche Teilhabe eine wichtige Rolle. Es ist gut erforscht, dass die Grundlagen für einen aktiven Lebensstil in der frühen Kindheit gelegt werden. Kinder, die über eine niedrige Einschätzung ihrer motorischen Kompetenz verfügen, neigen seltener dazu, sich im weiteren Verlauf ihres Lebens für einen aktiven Lebensstil zu entscheiden. Dies gilt grundsätzlich für alle Kinder, doch im Kontext von Sehbehinderung und Blindheit ergibt sich noch eine besondere Brisanz: Kinder und Jugendliche mit einer Sehbehinderung bewegen sich – zwar nicht zwangsläufig, aber doch statistisch relevant – weniger als sehende Kinder und Jugendliche und zeigen im Durchschnitt niedrigere motorische Kompetenznieveaus. Sie schätzen ihre eigenen motorischen Kompetenzen niedriger ein: Überbehütung, Orientierungsprobleme oder die Angst vor Zusammenstössen können den Sport- und Bewegungsdrang hemmen. Das führt häufig dazu, dass der Lebensstil im weiteren Lebensverlauf weniger aktiv bleibt.
Menschen mit einer Sehbehinderung sollten nicht nur mit einer allgemeinen oder psychomotorischen Bewegungsförderung konfrontiert werden, sondern – ohne diese Aspekte damit abwerten zu wollen – auch möglichst vielfältige motorische Kompetenzen erlernen. Man kann allerdings nicht automatisch davon ausgehen, dass motorische Kompetenzen wie Skifahren, Windsurfen, Bogenschiessen, Trampolinspringen, Klettern etc. im allgemeinen Sportverein zielgruppenspezifisch, d.h. auch passend für blinde oder sehbehinderte Kinder und Jugendliche, vermittelt werden. Daher muss eine möglichst umfassende motorische Förderung gerade in den blinden- und sehbehindertenpädagogischen Fördereinrichtungen stattfinden.
Vielfältige Möglichkeiten der motorischen Betätigung
Die Universität Marburg in Deutschland erforscht bereits seit 1970, wie sich motorische Kompetenzen in unterschiedlichen Bildungssettings mit Menschen mit Sehbehinderung didaktisch aufbereiten und vermitteln lassen. Hier sind mit den Jahren viele erprobte und wissenschaftlich fundierte Vermittlungsansätze zusammengekommen, die ich im Folgenden exemplarisch kurz erläutern möchte.
Alpines Skifahren
Der Langlauf und das alpine Skifahren zählen zu den didaktisch am meisten bearbeiteten Bewegungsthemen. Immer wieder hat sich gezeigt, dass Formen des «indirekten» Führens (ohne einen Funkhelm, ohne eine direkte Seilverbindung etc.) am besten funktionieren. Wichtig ist, dass eine Eins-zu-Eins-Betreuung gewährleistet ist und dass sich die Gelände- und Materialauswahl konsequent am Lernstand der Lernenden orientiert. So ist es beispielsweise hilfreich, das Schwingen auf Skiern zunächst mit Kurzskiern auf einem Hang zu üben, der möglichst flach ist und einen sicheren Auslauf ermöglicht. Man muss auch darauf achten, dass der Hang zunächst von unten (ohne Lift) «erobert» wird, damit die Skifahrer und –fahrerinnen ein Gefühl für die Weite der Abfahrt und den Hang erhalten. Sind die technischen Grundlagen gelegt, was hier im Detail nicht weiter ausgeführt werden kann, fährt die Skilehrkraft hinter dem Skifahrerinnen und -fahrern, sie sich an der Falllinie weitestgehend selbstständig orientieren können. Sie dirigiert mit der Stimme, wenn nötig, den Schwungrhythmus oder sagt Hindernisse an, die zu umfahren sind.
Windsurfen
Auch das Windsrufen gehört sicherlich zu den Sportarten, die nicht zwangsläufig mit blinden Menschen assoziiert werden. In einem entsprechenden didaktischen Setting und mit den geeigneten Materialien steht aber auch der Ausübung dieser Sportart nichts im Wege. Wichtig ist auch hier die 1:1-Betreuung sowie ein Tandemsurfbrett. Ähnlich wie beim Skifahren schafft beim Windsurfen die Windrichtung Orientierung. Ein Begleitfahrer oder eine –fahrerin ist vor allem dafür zuständig, Hindernisse anzusagen und Sorge dafür zu tragen, an der richtigen Stelle am Ufer anzulegen.
Blindenfussball
Neben diesen eher exotischen Disziplinen existieren für viele Sportarten aber auch sehbehindertenspezifische Adaptationen wie für Tennis, Bogenschießen oder Blindenfussball. Beim Blindenfussball treten zwei Mannschaften mit je vier Feldspielern und einem sehenden Torwart gegeneinander an. Gerade diese Sportart ist – wegen ihrer Anlehnung an das klassische Fussball – häufig besonders geeignet, um auch bei sehenden Sportlerinnen und Sportlern ein Verständnis für die besonderen Bedürfnisse von Menschen mit einer Sehbehinderung zu erreichen.
Fazit
Diese knappen Ausführungen möchten zwei Dinge erreichen: Einmal sollen sie für die Relevanz von Bewegung, Spiel und Sport sensibilisieren und andererseits Interesse wecken und Mut machen: Es lohnt, sich auf den Weg zu begeben, entsprechende Kompetenzen entweder selbst zu erwerben oder zu vermitteln.
Weiterführende Infos
- Giese, M. & Schumann, A. (2016): Inklusion im Sportunterricht: Blindenfußball. Kostenloses Unterrichtsmaterial bei der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV): https://www.dguv-lug.de/sekundarstufe-i/sport/inklusion-im-sportunterricht-blindenfussball/
- Giese, M. (Hrsg.) 2010. Sport- und Bewegungsunterricht mit Blinden und Sehbehinderten. Band 1: Theoretische Grundlagen – spezifische und adaptierte Sportarten. Aachen: Meyer & Meyer.
- Giese, M. (Hrsg.) 2010. Sport- und Bewegungsunterricht mit Blinden und Sehbehinderten. Band 2: Praktische Handreichungen für den Unterricht. Aachen: Meyer & Meyer.