Medizinische und (neuro-)psychologische Aspekte – ein aktueller Überblick
CVI (Cerebral Visual Impairment) wird als Sammelbegriff für zerebral bedingte Beeinträchtigungen des visuellen Wahrnehmungsvermögens bei Kindern und Jugendlichen verwendet. Es existieren bisher noch keine verbindlichen Diagnosekriterien und keine medizinische Diagnose im Sinne der International Classification of Diseases (ICD). Ein einheitlicher Standard ist jedoch eine entscheidende Voraussetzung für die valide Charakterisierung der visuellen Profile von Kindern und Jugendlichen mit CVI sowie für die Entwicklung und Anwendung personalisierter Förder- und Beratungsmassnahmen.
Von Josef Zihl, Professor für Neuropsychologie, Department Psychologie, LMU München, und CVI-Beratungsstelle am Sehbehinderten- und Blindenzentrum Südbayern (SBZ) in Unterschleissheim bei München (D)
Was ist visuelle Wahrnehmung?
Visuelle Wahrnehmung ist das Endprodukt einer Reihe von Prozessen der Aufnahme, Verarbeitung und Speicherung von Informationen auf der Ebene des Erlebens und Verhaltens und muss auch auf dieser Ebene untersucht und verstanden werden. Die visuelle Wahrnehmung nur anhand neurologischer Untersuchungsmethoden wie ERP, PET oder fMRT zu beurteilen, greift daher zu kurz. Vor diesem Hintergrund sollte der Begriff «visuelle Wahrnehmungsstörung» im diagnostischen und therapeutischen Alltag ganzheitlicher reflektiert werden (12).
Was bedeutet «CVI»?
Es wird inzwischen allgemein akzeptiert, dass das «C» «cerebral» («zerebral») bedeutet, da eine rein kortikale Schädigung, also eine ausschliessliche Schädigung der Hirnrinde ohne subkortikale Beteiligung (Marklager), bei Kindern ebenso wie bei Erwachsenen praktisch nicht vorkommt. Das «V» («visual») erlaubt aktuell aufgrund fehlender verbindlicher diagnostischer Kriterien keinen Rückschluss darauf, welche visuellen Funktionen betroffen und welche erhalten sind. Nach dem WHO-Kriterium für impairment («I») («any loss or abnormality in an anatomical structure or physiological or psychological function») werden nur die Sehschärfe und das Gesichtsfeld berücksichtigt. Andere visuelle Wahrnehmungsfunktionen (z.B. Form- und Farbsehen, das räumliche Sehen, die Raumwahrnehmung, visuelles Erkennen, Lesen) sowie die Blickmotorik im Kontext der visuellen Wahrnehmung bleiben unberücksichtigt. Es bleibt weiter unklar, ob es sich um eine primäre oder sekundär bedingte Sehstörung (z.B. durch fehlende visuelle Neugierde oder eine Störung der Aufmerksamkeit) handelt. Schliesslich erlaubt «I» keine Aussage über die möglichen funktionellen Folgen der Einbussen im visuellen Wahrnehmungsvermögen bezüglich Art und Ausmass der daraus resultierenden Sehbehinderung.
Medizinische Aspekte
Ursachen und Häufigkeit. Zerebral bedingte visuelle Wahrnehmungsstörungen haben ihre Ursache in morphologischen oder funktionellen Störungen des postchiasmatischen (zentralen) visuellen Systems. Zu den häufigsten Ursachen bei Kindern zählen Sauerstoffmangel des Gehirns, insbesondere im Rahmen von Frühgeburten oder Geburtskomplikationen, genetisch bedingte Entwicklungsstörungen des Gehirns (z.B. Lissenzephalie, kortikale Dysplasie), entzündliche (z.B. Meningitis, Enzephalitis) oder metabolische Erkrankungen (z.B. postnatale Hypoglykämie) und traumatische Schädigungen des Gehirns (4). Epidemiologische Studien zeigen, dass bei etwa 30-35% der Kinder mit einer Sehbehinderung («low vision») eine zerebrale Ursache vorliegt (2,13); in spezialisierten Einrichtungen liegt der Anteil meist deutlich höher (~60%; 5).
Visuelle Wahrnehmungsauffälligkeiten sind auch beim Down-Syndrom (Überblick, Raumwahrnehmung, soziale Wahrnehmung), beim Prader-Willi- Syndrom (soziale Wahrnehmung), beim Williams- Beuren-Syndrom (Überblick, Raumwahrnehmung), in Zusammenhang mit Symptomen aus dem autistischen Spektrum (Überblick, soziale Wahrnehmung; Entwicklungsprosopagnosie) und bei ADHS (Überblick) beschrieben worden (14).
Ophthalmologische und orthoptische Auffälligkeiten. Bei Kindern mit der Diagnose «CVI» sind Refraktionsanomalien (z.B. Kurz-, Weitsichtigkeit), Veränderungen des Augenhintergrunds, Verminderung der Sehschärfe, der räumlichen Kontrastauflösung und der Stereopsis (räumliches Sehen), (homonyme) Gesichtsfeldeinschränkungen, Strabismus (Schielen), Einschränkungen des Motilitätsbereichs der Augen, Nystagmus, Fixationsunruhe und beeinträchtigte Sakkaden und Folgebewegungen beschrieben (5). Zusätzlich zu den zerebral bedingten visuellen und okulomotorischen Funktionsstörungen können Veränderungen im peripheren Sehsystem, z.B. Retinitis pigmentosa, Katarakt, Frühgeborenenretinopathie (ROP), Optikusatrophie (degenerative Erkrankung des Sehnervs) sowie motorische und mentale Einschränkungen auftreten (2). Auffälligkeiten im peripheren visuellen System und in der Okulomotorik (den Augenbewegungen) scheinen bei genetischen Ursachen seltener vorzukommen als nach organischer Hirnschädigung (4). Die augenärztliche und orthoptische Diagnostik «elementarer » visueller und okulomotorischer (blickmotorischer) Funktionen kann aber meist nur einen Teil der visuellen Beeinträchtigung bei den betroffenen Kindern (er)klären und liefert deshalb auch keine ausreichend verlässliche Grundlage für die Diagnosestellung und für therapeutische Massnahmen (7).
Welche Merkmale bzw. Auffälligkeiten sind typisch für «CVI»?
Das visuelle Profil von CVI kann alle visuellen Wahrnehmungsstörungen umfassen, wie sie nach erworbener Hirnschädigung bei Erwachsenen bekannt sind, wobei «rein» genetische Ursachen typischerweise mit einem kleineren Spektrum an visuellen Auffälligkeiten assoziiert sind (4). Die Beeinträchtigung der «ganzheitlichen» visuellen Wahrnehmung (d.h. der vollständigen und raschen Erfassung der Umwelt bzw. von Vorlagen) ist ein häufiges und typisches Merkmal von CVI. Die Folge sind Schwierigkeiten in der Bewältigung von zeitkritischen Situationen und Aufgaben (z.B. rasches Erfassen von Bildern und Vorlagen, Verkehrs- und Spielsituationen). Weitere häufige Auffälligkeiten betreffen die visuelle Raumwahrnehmung und räumliche Orientierung und – bei älteren Kindern – das (flüssige) Lesen auf der visuellen Ebene, weil die ganzheitliche Erfassung von Textmaterial (Wörter, Zahlen) nicht gelingt bzw. zu lange dauert (16). Erworbene Störungen der visuellen Sozialwahrnehmung (Mimik, Gestik) können nach neurochirurgischen Eingriffen (z.B. wegen therapieresistenter Epilepsie) im Temporallappen auftreten; die Gesichtsblindheit, die seit der Kindheit oder Jugend besteht (Entwicklungsprosopagnosie), ist damit nicht zwangsläufig assoziiert.
Zusätzlich zur Beeinträchtigung des visuellen Wahrnehmungsvermögens sind bei Kindern mit CVI häufig (>60%) auch kognitive Komponenten betroffen, insbesondere Aufmerksamkeit, (visuelles) Arbeitsgedächtnis und exekutive Funktionen, die für die Bildung von Erfahrungen und für den Erwerb von hilfreichen Anpassungsstrategien wesentlich sind. Schliesslich können auch die mentale Gesundheit und die (soziale) Verhaltensregulation betroffen sein und das subjektive Wohlbefinden und die Bewältigung der Anforderungen im Alltag und in der Schule ungünstig beeinflussen (16).
Was sollte bei Verdacht auf CVI untersucht werden?
Neben der ophthalmologischen und orthoptischen Untersuchung sind die systematische Anamnese zu Schwierigkeiten im Alltag und in der Schule mit Hilfe standardisierter Fragebögen (16, 3) und die systematische Verhaltensbeobachtung (8) und Bedingungsanalyse (unter welchen Bedingungen treten visuelle Schwierigkeiten auf und warum?) feste Bestandteile der Diagnostik. Blickbewegungen (freie Exploration der Umgebung bzw. Suche nach optischen Reizen; Fixationsverhalten; Neugierdeverhalten) und Greifbewegungen bieten sich dabei als Verhaltensvariable auch bei sehr jungen und schwierig zu untersuchenden Kindern an (6).
Für die Erhebung des visuellen Profils sollten folgende Komponenten berücksichtigt werden: (1) Überblick und visuelle Exploration (freies Absuchen einer Szene/Vorlage) bzw. visuelle Suche; (2) Form- bzw. Figurwahrnehmung (einschl. Figur- Grund-Unterscheidung und Crowding Phänomene); (3) Farbwahrnehmung; (4) Raumwahrnehmung (einschliesslich räumlicher Orientierung); (5) Objekt- und Gesichterwahrnehmung (visuelles Erkennen) und (6) Lesen (ab dem Lesealter). Für die Untersuchung der genannten visuellen Wahrnehmungsleistungen stehen verschiedene, altersentsprechende Testverfahren zur Verfügung (3,12,16). Es ist wichtig, dass ausreichende Untersuchbarkeit besteht, da sonst die Untersuchungsergebnisse nicht zuverlässig interpretiert werden können; die individuelle Belastbarkeit und Fähigkeit zur Mitarbeit («Anstrengungsbereitschaft») sollten deshalb immer berücksichtigt werden.
Die Diagnose «CVI» kann vergeben werden, wenn eine objektiv nachweisbare Einschränkung des visuellen Wahrnehmungsvermögens vorliegt, die sich nicht ausreichend durch eine Funktionsstörung des peripheren visuellen Systems, einschliesslich der Okulomotorik, oder durch kognitive Auffälligkeiten erklären lässt (10,16). Medizinische Diagnosen und Informationen zur medizinischen Vorgeschichte und Ausgangssituation können die Diagnose unterstützen. Inzwischen liegen umfangreiche Vorschläge für die multidisziplinäre Diagnostik bei Verdacht auf CVI vor (3,9). Die Abgrenzung gegenüber Funktionsstörungen des peripheren (prächiasmatischen) visuellen Systems und die Berücksichtigung von Faktoren, die gemeinsam oder getrennt mit CVI auftreten (z.B. kognitive Schwierigkeiten) und das visuelle Wahrnehmungsvermögen ungünstig beeinflussen oder eine bestehende visuelle Wahrnehmungsstörung verstärken können, spielen dabei eine wichtige Rolle.
Förderung und Beratung bei CVI
Spezifische Fördermassnahmen sind hinsichtlich ihrer Wirksamkeit bisher wenig wissenschaftlich erforscht und auf Einzelfälle beschränkt (14,15). Das Management von Kindern und Jugendlichen mit CVI umfasst (a) eine sachgerechte, auf den Einzelfall abgestimmte Diagnostik, die immer auch eine ökologisch valide Einordnung des positiven und negativen visuellen «Leistungsbildes» einschliesst, (b) eine aufeinander abgestimmte Organisation der multidisziplinären Zusammenarbeit, (c) interdisziplinär verständlich abgefasste (fachspezifische) Befundberichte und (d) den Einbezug aller Betreuungspersonen (9). Die regelmässige Betreuung und Beratung sind zentrale Komponenten für die Verbesserung der Entwicklungsmöglichkeiten und (damit auch) der Lebensqualität der Betroffenen und ihrer Familien. Das möglichst frühe Erkennen von durch CVI verursachten Auffälligkeiten ist für die frühe Förderung und Beratung notwendig (11). Die Versorgung von Kindern und Jugendlichen mit CVI setzt eine multidisziplinäre und integrierte Vorgehensweise aller beteiligten Fachdisziplinen voraus. Auf dieser «ganzheitlichen» Grundlage lassen sich dann auch die individuelle Sehbehinderung und ihre Auswirkungen im Alltag und in der Schule einschätzen und entsprechend eine individuelle Beratung und, falls erforderlich, massgeschneiderte Fördermassnahmen für die Schule und den Alltag, durchführen (14,15). Da peripher und zentral bedingte Störungen der visuellen Wahrnehmung auch in Kombination vorkommen können, ist die Einordnung des visuellen Profils in das Konzept des «funktionalen Sehens» ein hilfreicher Ansatz. Dabei werden die individuell vorhandenen visuellen Fähigkeiten/Fertigkeiten bei Aktivitäten des täglichen Lebens (z.B. räumliche Orientierung, Kommunikation, alltagspraktische und schulische Anforderungen) ohne (notwendigen) Bezug zur Ursache der Sehbehinderung in den Vordergrund gestellt.
Abschliessende Bemerkungen
Derzeit stellen sicherlich die Anerkennung der Diagnose «CVI» und die Anerkennung sowie Sicherstellung der daraus resultierenden Beratungs- und Fördermassnahmen ein zentrales Anliegen dar. Die Entwicklung bzw. Sicherstellung qualifizierter, d.h. wissenschaftlich überprüfter Diagnostik- und Förderverfahren für Kinder und Jugendliche mit CVI ist dafür eine notwendige Voraussetzung. Es besteht somit nicht nur ein erhöhter Förder-, sondern auch Forschungsbedarf. Zusätzlich ist auch die Bereitschaft seitens der zuständigen Stellen gefordert, die Diagnose «CVI» nicht nur anzuerkennen, sondern auch die im Einzelfall erforderlichen diagnostischen und therapeutischen Massnahmen zu ermöglichen (1,11).
Der Autor bedankt sich bei Nina Hug und Prof. Fabian Winter für die redaktionelle Unterstützung
Literatur
1. Bertrand R, Gautschi J, Persello P, und Projektgruppe CVI-Konsens (2022) Ein «CVI»-Konsens für die Schweiz. SZBLIND Schweizerischer Zentralverein für das Blindenwesen.
2. Boonstra N, Limburg H, Tijmes N, et al. (2012) Changes in causes of low vision between 1988 and 2009 in a Dutch population of children. Acta Ophthalmologica 90: 277-286. doi: 10.1111/j.1755-3768.2011.02205.x.
3. Boonstra FN, Bosch DGM, Geldof CJA, et al. (2022) The multidisciplinary guidelines for diagnosis and referral in cerebral visual impairment. Frontiers in Human Neuroscience 16:727565. doi: 10.3389/fnhum.2022.727565.
4. Bosch DGM, Boonstra FM, Willemsen MAAP, et al. (2014) Low vision due to cerebral visual impairment: Differentiating between acquired and genetic causes. BMC Ophthalmology 14: 59. doi: 10.1186/1471-2415-14-59.
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