Mangel an Fachpersonen entgegen wirken
Fabian Winter ist seit einem Jahr Professor für Bildung bei Beeinträchtigung des Sehens an der Hochschule für Heilpädagogik Zürich (HfH). Seine Forschungsschwerpunkt liegen im Bereich Brailleschrift, Duale Schriftnutzung, ICT for Inclusion und Förderdiagnostik. Tactuel hat mit ihm das erste Jahr Revue passieren lassen und Einblick in seine Forschung erhalten.
von Nina Hug
tactuel: Herr Winter, Sie haben an der HfH eine Professur übernommen, die lange vakant war. Ausserdem fiel ihr Start mitten in die Corona-Pandemie. Wie alleine waren Sie da?
Fabian Winter: Das waren zu Beginn tatsächlich nicht unbedingt die besten Voraussetzungen, aber ich bin trotz dieser Umstände sehr gut gestartet. Die HfH war im Jahr 2020 auf mich zugekommen, kurz nachdem ich aus Vancouver von einem Forschungsaufenthalt zurückgekehrt war. Die ersten Gespräche haben mich damals überzeugt und führten schliesslich zu meiner Bewerbung. Im ersten Jahr wurde mir dann sehr viel Vertrauen entgegengebracht und das hat mir den Start sehr erleichtert. Zudem kannte ich meine Vorvorgängerin Ursula Hofer bereits sehr gut aus dem Forschungsprojekt „Zukunft der Brailleschrift“. Dazu wurde ich trotz pandemiebedingt weniger persönlicher Vor-Ort-Kontakte sehr gut in meine neuen Aufgaben eingeführt.
tactuel: Was hat Sie an der Stelle gereizt?
Fabian Winter: Ich sehe in der Professur eine grosse Chance, eigene Akzente in der Lehre und Forschung zu setzen. Zum Zeitpunkt der Anfrage war ich gerade dabei meine Dissertation zur dualen Schriftnutzung, also der Verwendung von Schwarz- und Brailleschrift, abzuschliessen. Ich habe darin Grundlagenforschung betrieben zu den schriftsprachlichen Kompetenzen von Menschen mit Sehbehinderung und Blindheit und daraus auch konkrete Fördermassnahmen für die Nutzenden abgeleitet. Diesen Ansatz, einer praxisnahen Forschung, würde ich auch gerne in Zukunft weiterverfolgen.
tactuel: Können Sie die Forschungsschwerpunkte, mit denen Sie sich auseinandersetzen, nennen?
Meine Forschungsinteressen liegen im Bereich der Brailleschrift, der dualen Schriftnutzung, Förderdiagnostik sowie im Bereich ICT for Inclusion.
tactuel: Was muss man sich unter ICT for Inclusion vorstellen?
ICT for Inclusion meint die Nutzung und Anpassung von Mainstream- und assistiven Technologien zur Förderung der Inklusion. Diese bieten neue Möglichkeiten zur Kommunikation, zur Informationsbeschaffung, zum Wissenserwerb, zur Alltagsgestaltung und zur Teilhabe an sozialen Angeboten und Aktivitäten. Das lässt sich gut am Beispiel des 3D-Drucks nachvollziehen. Für Lernende mit Blindheit oder hochgradiger Sehbehinderung können 3D-gedruckte Veranschaulichungsmedien im Unterricht viel Nutzen stiften. Um dem Thema ICT for Inclusion ein grösseres Gewicht beizumessen, haben wir im letzten Jahr an der HfH eine neue interdisziplinäre Fachstelle gegründet, die Beispiele gibt für die Nutzung und Anpassungen von Mainstream- oder assistiven Technologien in Unterricht und Schule, Frühförderung und Therapie. Auf der Website (www.ict-for-inclusion.ch) finden sich viele Beispiele und Videoanleitungen mit Tipps für Lehrpersonen, Fachpersonen und Eltern.
tactuel: Wie stark ist ihre Forschung an die Bedürfnisse von betroffenen Menschen gekoppelt?
Fabian Winter: Im Bereich Forschung und Entwicklung versuchen wir immer den Bogen zu schlagen von Modellen zur Anwendung in der Praxis. Nehmen wir das Beispiel der Förderdiagnostik. Seit langem fehlt im deutschsprachigen Raum ein aktuelles Verfahren zur fairen Erfassung von Intelligenz- und Entwicklungsfunktionen bei Kindern und Jugendlichen mit Sehbeeinträchtigung und Blindheit. Zusammen mit Ursula Hofer, Markus Lang und Vera Heyl arbeite ich deshalb an der Adaption und Normierung der IDS-2-BS für Kinder und Jugendliche mit Blindheit und Sehbeeinträchtigung. Die Entwicklung dieses Verfahrens ist den Institutionen der Blinden- und Sehbehindertenpädagogik wie den Eltern selbstbetroffener Kinder und Jugendlicher ein grosses Anliegen.
tactuel: Was ist das Ziel im Bereich der Forschung zur Förderdiagnostik?
Fabian Winter: Eine gezielte Förderung braucht eine verlässliche Diagnostik. Fachpersonen sollten deshalb genau wissen, wo die Stärken und Schwächen der Kinder und Jugendlichen liegen und wo angemessene Förder- und Bildungsangebote ansetzen können. Mit den IDS-2-BS entsteht ein Instrument, das Fachpersonen in diesem Prozess unterstützen kann. Das Testverfahren besteht aus speziell adaptierten Aufgaben und Materialien. Normierungstestungen zum Festlegen von Durchschnittswerten für alle Alters- und Klassenstufen werden zurzeit im gesamten deutschen Sprachraum durchgeführt. Die beim Verlag Hogrefe erscheinende IDS-2-BS soll beitragen zur Verbesserung des Bildungszugangs von Kindern und Jugendlichen mit Sehbeeinträchtigungen und Blindheit.
tactuel: Man hört immer wieder von einem Mangel an Fachkräften in der Sehbehindertenpädagogik. Welchen Beitrag leistet die HfH an eine Lösung des Problems?
Fabian Winter: Es zeichnet sich tatsächlich ab, dass wir in Zukunft einen grösseren Mangel an Fachpersonen haben werden. Mit der Neubesetzung der Professur für Bildung bei Beeinträchtigung des Sehens setzt die HfH ein Zeichen, dass man dem entgegenwirken will. In der Arbeit mit Menschen mit Sehbeeinträchtigung braucht es viele spezifische Kenntnisse, sei es zu Braille, assistiven Technologien, dem funktionalen Sehen und anderen Bereichen. In den spezifischen Modulen können die Studierenden grundlegende Kompetenzen der Blinden- und Sehbehindertenpädagogik erwerben. Das neue Curriculum an der HfH sieht zudem vor, dass die Studierende möglichst flexibel in Voll- und Teilzeit oder berufsbegleitend studieren können. Ausserdem stehen die spezifischen Module interessierten Personen auch als Weiterbildung offen.
tactuel: Welchen Wunsch haben Sie an das Sehbehindertenwesen oder den SZBLIND für die künftige Zusammenarbeit?
Fabian Winter: Ich wünsche mir Offenheit und freue mich auf den Austausch und die Zusammenarbeit mit den Mitgliedsorganisationen des SZBLIND. Als Mitglied der Kommission Sonderpädagogik erlebe ich dies bereits und ich freue mich darauf, den Austausch in den nächsten Jahren noch weiter zu vertiefen.
In der Dachorganisation, dem SZBLIND, sehe ich eine grosse Bereicherung und habe den Eindruck, dass dort Kräfte gebündelt werden und man mit einer Stimme spricht. Zudem wäre es eine gute Sache, wenn wir die Studierendenzahlen in der Zusammenarbeit mit den Institutionen des Sehbehindertenwesens mittelfristig erhöhen können.