Low-Vision-Forschung – das Jules-Gonin-Modell
Von Alyssia Lohner und Françoise Thaillens
Technologische Innovationen spielen in der Low-Vision-Forschung eine zentrale Rolle. In der Anfangsphase eines jeden Projekts ist es wichtig zu verstehen, ob und wie die Innovation den Betroffenen konkret nützen kann, aber auch, dass man so früh wie möglich die Low Vision Expertise in den Entwicklungsprozess von Produkten oder Dienstleistungen einbringt. Auf dieser Grundlage wurde das Jules-Gonin-Modell entwickelt.
Fatima Anaflous arbeitet seit 2015 am Hôpital ophtalmique Jules-Gonin in Lausanne in der Sozialarbeit und Low Vision-Rehabilitation, einem Referenzzentrum für den Kanton Waadt. Nach ihrem Studium der Orthoptik hat sie sich auf den Bereich Low Vision spezialisiert. Mit grosser Leidenschaft für die Klinik, betreut Fatima Anaflous die Patientinnen und Patienten und stellt als Forschungsbeauftragte eine Verbindung zwischen Innovation und den Bedürfnissen der Betroffenen her.
Sie sind Orthoptistin und auch Forschungsbeauftragte für Low Vision. Können Sie uns mehr dazu erzählen?
Ich interessiere mich sehr für Innovation. Sprich, für die Schaffung von etwas Neuem, wie zum Beispiel einer assistierenden Technologie. Meine Doppelfunktion erlaubt es mir, nahe an den Patienten und Patientinnen und ihren Bedürfnissen zu sein und gleichzeitig darauf hinzuwirken, dass aus diesen Bedürfnissen heraus neue Technologien entwickelt werden.
Die verfügbaren Hilfsmittel zeugen bereits heute von einer hohen Innovationskraft, die den Menschen mit Sehbeeinträchtigungen zugutekommt. Aufgrund rasanter technologischer Entwicklungen wie im Bereich der künstlichen Intelligenz spielt Innovation eine immer wichtigere Rolle. In der Anfangsphase eines jeden Projekts ist es wichtig zu wissen, ob und wie unsere Klientinnen konkret von der Innovation profitieren können. Ebenfalls entscheidend ist, dass wir uns mit unserem Fachwissen so früh wie möglich in den Entwicklungsprozess einbringen können.
Wie ist dieser Forschungsbereich an der Augenklinik Jules-Gonin organisiert?
Mit Blick auf das Ziel, unsere klinische Praxis zu verbessern, gehen wir von drei Prämissen aus. Zunächst einmal wollen wir den Erfolg in der Behandlung unserer Low-Vision-Patientinnen und Patienten messbar machen. Es ist äusserst schwierig zu quantifizieren, inwieweit sich ein Patient oder eine Patientin durch unsere Hilfe unabhängiger fühlt. Doch genau solche Informationen brauchen wir, um sehen zu können, ob unser Handeln auch wirksam ist. Zweitens schreiten Innovation und Technologie sehr schnell voran, insbesondere im Bereich der künstlichen Intelligenz. Wir wollen ein Defizit ausgleichen. Aber das müssen wir auf die richtige Art und Weise tun. Wir haben beispielsweise festgestellt, dass ein GPSSystem einer blinden Person relevante Informationen liefern und ihr damit mehr Sicherheit geben kann. An sich etwas Gutes. Doch die grosse Herausforderung besteht darin zu wissen, wann genau und auf welchem Weg die betroffene Person diese Informationen erhalten soll. Von Bedeutung sind schliesslich auch die Daten zu unseren Klientinnen und Klienten. Ihre Analyse sollte es uns ermöglichen, zukünftige Bedürfnisse zu antizipieren, unsere Praktiken zu verbessern und bestimmte Indikatoren sowie Warnmeldungen einzuführen: «Achtung, die Sehschärfe dieser Person hat abgenommen, sie ist nun im Alltag mit folgenden Risiken konfrontiert.» Auch das ist Forschung! Es bestand eine echte Notwendigkeit, all unsere Ressourcen zu bündeln und über die Kantonsgrenzen hinweg zusammenzuarbeiten. Wir haben es hier im wissenschaftlichen Sinne mit einer «Nischen »-Population zu tun, und mit dem Patientenstamm nur einer Institution lassen sich schlicht keine umfangreichen Studien durchführen. So haben wir unter der Federführung des SZBLIND eine Forschungskommission für Low Vision mit Vertreterinnen und Vertretern verschiedener kantonaler Beratungszentren ins Leben gerufen.
Unter der Leitung von Fatima Anaflous und ihren Kollegen konnten in den letzten Jahren zahlreiche konkrete Forschungsprojekte im Bereich Low Vision entwickelt werden. Im Folgenden werden einige davon vorgestellt.
Ein Living-Lab für ein internationales Netzwerk
Um die Forschung im Bereich Low Vision zu fördern, startete die Augenklinik 2015 ein «Living- Lab»-Projekt mit einer Musterwohnung sowie einem Blendungs- und Mobilitätsraum. Wir betrachten die Nutzenden als Hauptakteure im Forschungs- und Innovationsprozess. Ebenfalls im Jahr 2015 wurde die Augenklinik ins internationale Forschungsnetzwerk EIT Health aufgenommen. Dank dieser Kooperation kann die Klinik ihr Living- Lab auch anderen zur Verfügung stellen. «Wir leiten unsere Beobachtungen an die Entwicklerinnen und Entwickler weiter, insbesondere bestimmte Probleme, die wir im engen Austausch mit den Nutzenden festgestellt haben. Basierend auf unseren Feststellungen werden dann Anpassungen an den Prototypen vorgenommen», erläutert Fatima Anaflous.
Verbesserung der Eigenständigkeit blinder Menschen dank digital basiertem Tasten
Die Forschungsgruppe beschäftigte sich im Rahmen des Projekts «Hap2U» mit dem Thema der Haptik (Erforschung und Nutzung des Tastsinns). Mittels einer Metallplatte konnte bei Nutzenden von Displays ein haptisches Feedback auf den Fingerkuppen erzeugt werden. Es stellte sich die Frage, ob damit Menschen mit einer Sehbehinderung in ihrer Orientierung und Mobilität unterstützt werden können. Dank der Zusammenarbeit zwischen dem Universitätsspital des Kantons Waadt (CHUV), der Fachhochschule Nordwestschweiz– Wallis, dem Start-up Hap2U und der Fondation Asile des aveugles konnte das Forschungsteam nachweisen, dass sich eine blinde Person mithilfe dieser innovativen Technologie tatsächlich orientieren kann.
Künstliche Intelligenz und virtuelle Realität
2018 bis 2020 konzentrierten sich Fatima Anaflous und ihre Kolleginnen und Kollegen auf das Thema künstliche Intelligenz. Unter dem von EIT Health finanzierten Projekt E-Visa sollte der Prototyp eines weissen Stocks mit integrierter Kamera getestet werden. Das Forschungsteam führte in seinem Living-Lab Innenraum-Tests durch, während das Institut de la Vision in Paris den Prototypen auf seiner künstlich angelegten Strasse im Freien testete. Dabei ging es insbesondere um Fragen zur Art der Informationsübermittlung. Wie kann man die Nutzenden am besten mithilfe der Kamera auf Gefahren hinweisen, und welche Informationen sollen wie übermittelt werden? Wird die blinde Person einen Kopfhörer tragen, der im Sekundentakt Pieptöne abgibt? Muss wirklich auf alle Hindernisse hingewiesen werden? «Es ist unabdingbar, sowohl mit Patientinnen und Patienten als auch mit Fachpersonen Tests in einer kontrollierten Umgebung durchzuführen. Man kann zwar ein tolles Produkt haben, das alle Hindernisse erkennt, doch im Praxistest zeigt sich dann, dass die Art der Informationsübermittlung noch zu wünschen übriglässt.
Ein intelligenter KI-Co-Pilot
Vor einiger Zeit erregte das Biped-Gerät von Maël Fabien unsere Aufmerksamkeit. Dieser junge Ingenieur für künstliche Intelligenz hat einen intelligenten Schultergurt mit 3D-Kameras entwickelt, der von selbstfahrenden Autos inspiriert ist. Aufgrund unserer bisherigen Forschung haben wir schnell die Stärken und Schwächen von Maëls Prototyp ermittelt.
Nach einer mehrjährigen Entwicklungsphase und unzähligen Tests – unter anderem an der Augenklinik selbst – ist aus dem Prototyp ein Tool geworden, das sich auch in der realen Welt als funktionstüchtig erweist. Die Trägerinnen und Träger werden durch sich verändernde Töne vor Gefahren und Hindernissen gewarnt, wobei sich die Tonausgabefrequenz mit Näherrücken eines Hindernisses erhöht «Diese neue Vorrichtung ist ein echter Gewinn an Sicherheit und Komfort für die immer eigenständiger werdenden sehbeeinträchtigten Personen. Sie ist auch ein gutes Beispiel für interdisziplinäre Mitwirkung in der Forschung, wurden doch bereits von der frühesten Konzeptionsphase an Endnutzende, Fachpersonen im Bereich Sehbehinderung sowie Ingenieurinnen und Ingenieure miteinbezogen», so Fatima Anaflous weiter.
Low Vision im Dienste eines teleskopischen Implantats
2022 hat Prof. Thomas J. Wolfensberger erstmals in der Schweiz einem Patienten der Augenklinik Jules-Gonin ein Miniaturteleskop implantiert. Hier ist das Low-Vision-Forschungsteam in der postoperativen Nachsorge involviert. Es ist von entscheidender Bedeutung, die Funktionsweise dieser Technologie zu verstehen, um für die Patient/- innen den grösstmöglichen Nutzen aus dem Implantat zu gewinnen. «Unsere Aufgabe ist es, ein für künftige Betroffene spezifisches und möglichst optimales Rehabilitationstraining zu entwickeln und umzusetzen. Auch das ein gutes Beispiel für eine weitere Zusammenarbeit. Diesmal zwischen einem Chirurgen, dem Team der Low-Vision-Stelle und den Entwicklern des Implantats», schliesst Fatima Anaflous.