Leben mit Taubblindheit: Dabei sein und doch nicht dabei sein
Die Aargauerin Maria Theresia Müller ist mit ihren fast 80 Jahren noch sportlich, fit und überaus aktiv. Ihre Hörsehbehinderung ist genetisch bedingt und machte sich schon in der Jugend bemerkbar. Trotzdem erhielt sie erst mit 44 Jahren spezifische Unterstützung, die ihr half, selbstbestimmt und mit neu gewonnener Lebensfreude durchs Leben zu gehen.
Von Michel Bossart
Maria Theresia Müller macht es richtig hässig, wenn sie nicht ernstgenommen wird oder wenn sie sich bevormundet fühlt. «Ich bin seit Geburt hörbeeinträchtigt und in der Pubertät brach die erbbedingte Retinits Pigmentosa (RP) aus, die aber nicht diagnostiziert wurde.» Das älteste von elf Kindern wurde Schaftnäherin bei Bally in Schönenwerd und erinnert sich an ein Ereignis, als sie 18 Jahre alt war: «Wir waren unterwegs in die Mitternachtsmesse und ich kam vom Weg ab, weil ich die Strasse schlicht und einfach nicht sah. Mein Vater fand, ich übertreibe, ich solle mich etwas zusammenreissen.» Mit 21 ging sie dann zum Augenarzt. Nach einer Untersuchung sagte er ihr, dass sie vollständig erblinden werde.
Zuhause, am Arbeitsplatz und im nahen Umfeld wollte man sie nicht ernst nehmen. Im Gegenteil. Wenn sie etwas nicht sehen konnte, meinte man bloss, sie solle halt die Augen besser öffnen, der Augenarzt sei ein Spinner. «Über 20 Jahre lang habe ich das mit mir machen lassen. Habe alles unterdrückt», sagt sie verbittert und fährt fort: «Im März 1988 war ich fix und fertig. Die Sicht und das Gehör wurden immer schlechter. Ich sagte zu meinen Leuten: Adieu, ich komm nicht mehr heim.» Sie stand am Reussufer und war bereit, mit dem Leben Schluss zu machen. «Mami, mach das nicht!», flehte ihr Sohn sie an, der ihr gefolgt war. Sie solle mit jemandem über ihre Probleme sprechen, forderte er. Aber mit wem? Niemand schien sie ja ernst zu nehmen.
20 Jahre ohne Unterstützung
Da ihr im Jahr 2020 verstorbener Mann ebenfalls gehörlos war, besuchten sie einmal im Monat einen Gehörlosengottesdienst in Baden. Als der Pfarrer sie im Anschluss fragte, wie es ihr gehe, kamen ihr die Tränen, wie sie erzählt. «Ich habe meinen ganzen Mut zusammengenommen und um ein Gespräch unter vier Augen gebeten. Der Pfarrer hat den Ernst der Situation erkannt und sie an die entsprechenden Hilfs- und Beratungsstellen verwiesen. Maria Theresia Müller erinnert sich genau: «Am 30. November 1988 ist zum ersten Mal eine Sozialarbeiterin vom SZBLIND vorbeigekommen. » Für die Unterstützung, die sie seither erhält, ist die heute knapp 80-jährige Seniorin dankbar. Dank ihr kann sie fast ganz selbstständig durchs Leben gehen. Labradorhündin Henni – es ist bereits ihr vierter Blindenführhund – weicht ihr bei den alltäglichen Verrichtungen nicht von der Seite.
Wider die Einsamkeit
Dank des Cochlea-Implantats (CI) sind für Maria Theresia Müller Konversationen in ruhigen Umgebungen möglich. «Wenn das Gegenüber laut, deutlich und langsam spricht», präzisiert sie lachend. Zur Sicherheit hat sie das Lorm-Alphabet gelernt, sie sei aber nicht so flink dabei, meint sie, weil sie es nicht allzu oft brauche. Gerne liest sie Bücher in Brailleschrift und hat auch am Computer eine Braillezeile.
Ist sie von der Vereinsamung, von der taubblinde Menschen oft berichten, gar nicht betroffen? «Oh, doch!», sagt sie, ohne zu zögern. «Wenn ich in Gesellschaft bin, in der viel geredet wird, dann verstehe ich überhaupt nichts. Das belastet mich sehr. Ich bin dann zwar dabei und doch nicht dabei. Dann fühle ich mich einsam und werde traurig. » Ja, manchmal hadere sie mit ihrem Schicksal. «Es gibt Tage, da kann ich alles gut akzeptieren und dann gibt’s halt auch die anderen Tage.»
So selbstständig wie möglich
Damit sie merkt, dass jemand mit ihr sprechen will, soll man ihr auf die Schultern klopfen. Wenn man sie auf der Strasse einfach anspricht, kann sie nicht verstehen, ob die Person nun wirklich etwas von ihr wolle oder nicht. Wichtig ist ihr, dass man ihre Selbstständigkeit respektiert und ihre Wünsche ernstnimmt. «Manchmal gibt es Situationen, da komme ich mir richtig bevormundet vor», ärgert sie sich. «Ich möchte selbst entscheiden, wann ich Hilfe brauche und wann ich ganz gut alleine zurechtkomme.» Dank Führhündin Henni findet sie auch ihren Weg. Zum Beispiel auf den Friedhof zum Grab ihres Mannes. Handkehrum sei sie auch schon 15 Minuten im Laden gestanden und habe um Hilfe gerufen. «Niemand, kein Kunde, kein Verkaufspersonal hat mich gehört.» Dann sei sie halt wieder nach Hause gegangen und habe eine Nachbarin gebeten, mit ihr einkaufen zu gehen. Ihre Wohnung hält Maria Theresia Müller selbst im Schuss: «Ich erledigte den Haushalt weitestgehend allein.» Lediglich eine Putzhilfe komme alle zwei Wochen vorbei und unterstütze sie bei gewissen Reinigungsarbeiten.
Sportliche und aktive Oma
Maria Theresia Müller ist aktiv und auch mit 80 Jahren noch sportlich: Regelmässig betreibt die fünffache Grossmutter Langlauf und liebt Veloferien auf dem Tandem. Im Flur gibt es eine Vitrine mit unzähligen Medaillen, die sie bei zahlreichen Plussport-Aktivitäten gewonnen hat. In der Wohnung stehen auch zwei Webstühle: «Ich webe alles für die Küche – Hand- und Geschirrtücher, Topflappen, Tischläufer, Schürzen aber auch Lätzli für Babys, Taschen oder Stricknadelhüllen.» Das Geschäft läuft; die rüstige Rentnerin hat viele Aufträge, die sie noch verweben müsse, lacht sie. Zum achtzigsten Geburtstag wünscht sie sich vor allem eins: ein richtiges Gespräch. Oft erhalte sie nämlich nur die Zusammenfassung von Gesprächsteilen. Das empfindet sie als unbefriedigend. «Ich mache kein richtiges Geburtstagsfest, sondern einen Tag der offenen Tür. Ich hoffe, dass viele Freunde und Bekannte kommen und dass es Gelegenheiten für interessante Austausche geben wird.»