Kein Entscheid über uns ohne uns!
„Kein Entscheid über uns ohne unsere Mitbestimmung!“
Interview mit Frau Sanja Tarczay über das Engagement der European Deafblind Union.
Seit 2003 kämpft die Europaen Deafblind Union (EDbU) für die Gleichstellung taubblinder Menschen. Im Sommer dieses Jahres lancierte die EDbU eine dringliche Resolution für die Chancengleichheit von taubblinden Menschen in Europa. Nina Hug sprach mit Sanja Tarczay über bereits Erreichtes und die nach wie vor bestehenden Herausforderungen, für Menschen mit Taubblindheit gleiche Chancen zu erwirken.
Frau Tarczay, wenn Sie zurück schauen, auf die letzten Jahre: was hat sich für taubblinde Menschen in Europa verändert?
Ich bin wirklich stolz auf das, was wir erreicht haben. Vor fast 10 Jahren haben wir eine erste Resolution zur Gleichstellung taubblinder Menschen verabschiedet. Diese diente den taubblinden Menschen in Europa als wichtiges Instrument, sich politisch Gehör zu verschaffen. Die Resolution ermutigte zum Beispiel Betroffene zur Gründung von Taubblinden-Organisationen. Organisierte Aktivitäten helfen taubblinden Menschen enorm, ihre fundamentalen Rechte einzufordern.
In der Resolution werden die Mitgliedstaaten der EU aufgefordert, die Rechte taubblinder Menschen, zum Beispiel auf für sie zugängliche Informationen, anzuerkennen. Hat die europäische Gesetzgebung die Belange der Taubblinden Menschen aufgenommen?
Ein Jahr nach der Gründung der European Deafblind Union anerkannte das EU Parlament Taubblindheit als eigenständige Behinderung. Das war ein wichtiger Schritt. Wir lobbyieren auf verschiedenen Ebenen für unsere Rechte. Zum Beispiel organisierten wir im Juni 2015 ein Working Breakfast für EU Parlamentarier mit dem Titel „Taubblinde in Europa – die Ausgegrenzten der Ausgegrenzten“. Im Gespräch mit den Parlamentariern konnten wir Anliegen wie zum Beispiel das Recht auf qualifizierte und professionelle Übersetzer und die gesetzliche Anerkennung der Gebärdensprache thematisieren. Zurzeit wird im EU Parlament eine Resolution zu „Gebärdensprache und professionellen Gebärden-Übersetzern“ verhandelt. Wird diese Resolution angenommen, ist dies ein starkes Tool für unsere Anliegen.
Was sind die grössten Barrieren, die eine Gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Taubblindheit an der Gesellschaft heute verhindern?
Wir sollten ehrlich sein und bei uns selber beginnen. Die Passivität vieler taubblinder Menschen führt dazu, dass wir Menschen zweiter Klasse bleiben. Die Praxis zeigt, dass in solchen Staaten in denen sich Taubblinde am stärksten für ihre eigenen Rechte engagieren, ihre Rechte auch am stärksten respektiert werden und sie nach besten Möglichkeiten unterstützt werden. Was uns aber auch im Weg steht, ist häufig eine veraltete Gesetzgebung und langsame bürokratische Mühlen.
Wie geht die European Deafblind Union genau vor, um Belange taubblinder Mitbürger in der Gesellschaft sichtbar zu machen?
„Nothing about us without us!“ Das heisst konkret, dass wir – wo es noch keine Taubblinden Interessenvertretungen gibt – helfen, solche Organisationen aufzubauen. Und dort, wo es sie gibt, unterstützen wir diese Organisationen, dass sie mit Behörden und anderen Organisationen auf Augenhöhe zu kommunizieren können. Zum Beispiel, indem wir Übersetzungsservices organisieren.
Frau Tarczay, Sie haben selber mit Hilfe eines persönlichen Übersetzers die starke Leistung vollbracht, zu studieren und den Doktortitel zu erwerben. Wie haben Sie das geschafft?
Ich wurde als Kind tauber Eltern selber taub geboren und lernte als Muttersprache Kroatische Gebärdensprache. Ich habe sehr früh lesen und schreiben gelernt und so auch eine ganz normale Schule besucht und mit dem Wirtschaftsabitur abgeschlossen. Im jugendlichen Alter wurden die Kommunikationsbarrieren aber immer grösser. Auch weil ich plötzlich immer unschärfer sah. Dies distanzierte mich nicht nur von meiner Umwelt sondern auch von meinen Freunden. Als ich dann erblindete war ich sehr ängstlich und durcheinander und habe erst nicht verstanden, was dies bedeutet. Ich musste eine ganz neue Identität entwickeln. Ich gründete die Kroatische Assoziation der Taubblinden Menschen (Dodir), deren Präsidentin ich immer noch bin. Später schrieb ich mich in der Fakultät für Bildung und Rehabilitation der Universität Zagreb ein, musste aber bald erkennen, dass ich ohne geeigneten Übersetzer keine Chance hatte, dem Stoff zu folgen. Nach einigen Jahren versuchte ich es erneut, dieses Mal mit Übersetzer. Und schaffte den Abschluss. Schlussendlich doktorierte ich sogar. Was für ein Kraftakt! Wenn Sie mich fragen ob es sich gelohnt hat: Ja!! Würde ich es nochmal so machen? Bitte nicht fragen – ich könnte Nein sagen!