Hören, fühlen, lernen: Der Weg zur deutschen Sprache mit eingeschränktem Sehsinn
In einem Zürcher Pilotprojekt lernen blinde und sehbeeinträchtigte Menschen auf einzigartige Weise Deutsch: Ohne Lehrmittel und Tafel, dafür mit viel Hören und manchmal auch Fühlen. Die Teilnehmenden stellen sich den Herausforderungen des Spracherwerbs – und zeigen eindrücklich, dass visuelle Barrieren beim Sprachenlernen überwunden werden können.

Von Michel Bossart
«Ich wohne ausserhalb das Zentrum», liest Ina Condrea, die vor einer an Tischen sitzenden Gruppe steht, einen Satz vor und möchte wissen, ob er richtig ist. «Ist ‹Zentrum› ein Neutrum oder ein Maskulinum?», fragt Andrei in die Runde. «Es heisst das Zentrum», ruft Nassir bestimmt. «Und?», hakt Ina Condrea nach, «ist ‹ich wohne ausserhalb das Zentrum› ein korrekter deutscher Satz?»
Wir sind bei der Sehhilfe Zürich: Im Klassenzimmer des Deutschkurses für Menschen mit Sehbeeinträchtigung kämpfen die Lernenden grundsätzlich mit den gleichen Problemen wie in anderen Deutschkursen. Nur: In diesem Deutschkurs gibt es kein Lehrmittel, in das man Notizen schreiben kann, und auch keine Wandtafel, auf der die Lehrperson etwas visualisieren könnte. Die zu lernende Sprache wird hauptsächlich über das Gehör vermittelt.
Condrea ist Deutschlehrerin für Fremdsprachige beziehungsweise für Menschen, die Deutsch als Zweitsprache lernen wollen oder müssen, weil sie zum Beispiel als Geflüchtete in die Schweiz gekommen sind. Seit 16 Jahren ist sie Inhaberin ihrer eigenen Sprachschule; seit Januar 2024 unterrichtet sie zum ersten Mal Deutsch in einer Klasse, die ausschliesslich aus Menschen mit einer Sehbeeinträchtigung besteht.
Die Konkurrenz unter den Sprachschulen in der Schweiz ist eigentlich gross. Doch wer blind oder sehbeeinträchtigt ist, findet hierzulande kaum oder gar keine geeigneten Angebote. Als lizenzierte Telc-Prüferin weiss Condrea, wovon sie spricht, wenn sie sagt, dass blinde und sehbeeinträchtigte Menschen beim Fremdsprachenlernen benachteiligt sind. «Telc» steht für «The European Language Certificates» also «Die Europäischen Sprachzertifikate». Unter der Marke Telc entwickelt und verbreitet die Telc gGmbH mit zentralem Sitz in Frankfurt über vierzig Sprachprüfungen in derzeit neun europäischen Sprachen. Leitlinie ist der gemeinsame europäische Referenzrahmen für Sprachen aus dem Jahr 2001, der auf eine Initiative des Europarats zurückgeht. Mit anderen Worten: Telc steht für einen Qualitätsstandard für das Erlernen und Prüfen von Fremdsprachen. Condrea sagt dazu: «Wer eine offizielle Sprachprüfung nach Telc ablegen will, hat viele Möglichkeiten, sich darauf vorzubereiten. Aber bis heute konnte mir niemand sagen, ob Hilfsmittel wie Smartphones oder Laptops bei der Prüfung für Menschen mit Sehbehinderung erlaubt sind.» Unklar sei auch, ob die schriftliche Prüfung für blinde und sehbeeinträchtigte Teilnehmerinnen und Teilnehmer durch eine mündliche Prüfung ersetzt werden kann oder nicht. «Auf jeden Fall», sagt Condrea, «ist die derzeitige Situation für Menschen mit Sehbeeinträchtigung diskriminierend. Sie sind gegenüber Sehenden benachteiligt, weil es zum Beispiel keine sehbeeinträchtigtengerechten Übungsprüfungen gibt.»
Spüren und lernen
Die Sprachprüfungen sind das eine, das andere – und wohl viel gravierendere – Problem ist das fehlende Angebot an Kursen, um die Sprache überhaupt erlernen zu können. Die Zürcher Sehhilfe, die Regionalgruppe Zürich des Schweizerischen Blindenbundes (RGZ), Sichtbar Zürich, eine Beratungsstelle des Schweizerischen Blindenbundes, und der Schweizerische Blinden- und Sehbehindertenverband SBV, vertreten durch die Beratungsstelle Zürich und das Bildungs- und Begegnungszentrum (BBZ) Dietikon, haben deshalb in Zürich ein Pilotprojekt gestartet, um herauszufinden, ob Gruppenunterricht für Menschen mit einer Sehbeeinträchtigung zielführend ist. Die Teilnehmenden stammen aus Afghanistan, Äthiopien, Russland, der Elfenbeinküste, dem Iran und der Ukraine. «Gerade bei Neulingen, die noch überhaupt keine Deutschkenntnisse haben, ist die Sehbeeinträchtigung eine zusätzliche Herausforderung », beginnt Condrea zu erklären: Könne sie sehenden Lernenden ein Bild eines Sitzmöbels zeigen und sagen, dass das auf Deutsch «der Stuhl» heisst, ist bei blinden und sehbeeinträchtigten Menschen ein ganz anderes Vorgehen angesagt. Als erstes musste die Sprachkursleiterin den Kursteilnehmenden erklären, dass Sprachvermittlung auch mittels Berührung stattfinden wird. Nämlich dann, wenn sie zum Beispiel erklärt, was «ich» oder «du» bedeutet. Oder Präpositionen wie «auf», «hinter», «vor» oder «unter ». Oder eben «Stuhl». Dann geht Condrea zu jedem einzelnen Lernenden, nimmt seine oder ihre Hand, führt sie zum Stuhl und sagt: «Das ist der Stuhl; ein Stuhl.»
Mit und ohne Hilfsmittel
Die Fortgeschrittenenklasse hat sich diesen Grundwortschatz bereits verinnerlicht. Heute stehen abstraktere Vokabeln rund um das Thema «Strasse und Verkehr» auf dem Programm: Autofahrer, Ampel, anhalten, überqueren, geradeaus fahren, abbiegen, Fussgängerstreifen, Unfall, verletzt, Kreisel. Was ein Kreisel ist, verstehen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer nach den mündlichen Erklärungen der Lehrerin nicht so recht. Sie geht zu ihnen, formt mit den Händen einen Kreis, dann ein Kreuz, lässt die Lernenden ihre Hände berühren und erklärt das Wort noch einmal. Jetzt haben sie es verstanden: Condrea buchstabiert das Wort: Andrei tippt es sofort in seinen Laptop und hört mit dem Ohrstöpsel mit, was er tippt. Irina kann mit ihrem Restsehvermögen die neue Vokabel mit einem dicken schwarzen Filzstift auf einem A4-Papier notieren. Die anderen Teilnehmenden merken sich die neuen Wörter, indem sie sich die Vokabeln über das Gehör einprägen.
Fremdsprachige müssen beim Deutscherwerb auf Stolperfallen wie die vier Fälle, die drei Artikel und die komplizierten Deklinationsmuster achten. Während Sehende sich Deklinationstabellen visuell einprägen können, müssen sich blinde und sehbeeinträchtigte Lernende ganz auf ihr Gehör und ihr Gedächtnis verlassen. So nennen viele in dieser Fortgeschrittenenklasse denn auch den Genitiv als ihr grösstes Lernproblem.
Zurück zum Vokabeltraining: Um sich die neu gelernten Wörter besser einzuprägen, sollen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer in Zweiergruppen eine von drei Fragen diskutieren: Wie unterscheidet sich der städtische und der ländliche Verkehr im Heimatland? Vergleiche den ÖV in der Schweiz mit demjenigen im Herkunftsland und sehbeeinträchtigte Passagiere im Verkehr in der Schweiz und im Heimatland. Die Gruppen ziehen sich zurück und beginnen zu diskutieren. Währenddessen achtet die Lehrperson darauf, dass die Teilnehmenden nicht ins Englische oder Russische abdriften, sondern dass der Austausch untereinander auf Deutsch stattfindet. Danach treffen sich alle wieder im Plenum und bevor der Unterricht nach zwei Stunden zu Ende ist, teilen die Lernenden ihre Erkenntnisse mit den anderen.

Angefangen bei den W-Fragen Die Stimmung im Klassenzimmer an diesem Morgen ist gut. Die Teilnehmenden sind motiviert und lernbegierig. Man merkt ihnen an, dass der Unterricht eine willkommene Abwechslung in ihrem Alltag ist und ihnen Spass macht. Auch weil viele von ihnen unter der Woche kaum Gelegenheit haben, Deutsch zu sprechen, ermutigt die Lehrerin sie, deutsches Radio zu hören. Wie für alle Deutschlernenden in der Schweiz stellt der im Schweizer Alltag gesprochene Dialekt auch für die anwesenden Lernenden eine gewisse Hürde dar: In der Schule lernt man Hochdeutsch, auf der Strasse hört man es anders.
Im Klassenzimmer vermittelt ihnen Condrea die deutsche Sprache auf eine spielerische Art und Weise. Dafür nutzt sie eigenes Lehrmaterial: «Meine Erfahrung mit herkömmlichen Lehrmitteln ist, dass diese oft etwas gekünstelte Situationen beschreiben. Mir hingegen ist es wichtig, die Lernenden gerade am Anfang mit der Alltagssprache vertraut zu machen. Dazu verwende ich viele W-Fragen: Wo wohnst du, woher kommst du, wie alt bist du…?». Ihr Vorbereitungsaufwand für die Lektionen sei mindestens doppelt so hoch, wie bei einem Kurs für Sehende, sagt Condrea. Alles, was sie anderen Teilnehmerinnen und Teilnehmern visuell vermitteln könne, müsse sie sehbeeinträchtigtengerecht gestalten und für alles zusätzliche Audiodateien erstellen, die sie nach dem Kurs zur Verfügung stelle.
Für dieses Pilotprojekt wurde sie mit dem gleichen Betrag vergütet, wie für einen Kurs mit sehenden Teilnehmenden. Nach der ersten Pilotphase von Januar bis März und dem Anschlusskurs, der von Juni bis Ende August dauerte, ist sie zuversichtlich, dass der Deutschkurs für blinde und sehbeeinträchtigte Deutschlernende einen festen Platz im Angebot der Sehbehindertenorganisationen im Raum Zürich erhalten und auch ihre Entschädigung dem höheren Aufwand angepasst wird. Schön wäre es auch, wenn das Zürcher Beispiel Schule macht, und es auch in anderen deutschsprachigen Regionen der Schweiz schon bald ein Deutschkursangebot für Menschen mit einer Sehbeeinträchtigung gibt. Das Pilotprojekt in Zürich hat gezeigt, dass Gruppenunterricht auch für Menschen mit einer Sehbehinderung zielführend ist.