Hörbuch-Tipp

Yael Inokai: Ein simpler Eingriff

Krankenschwester Meret hat die Begabung, mit den vorwiegend weiblichen Patientinnen eine Bindung aufzubauen, die die Grenze zwischen Nähe und Distanz wahrt. Der Chefarzt wird auf sie aufmerksam und weist ihr bei einer neuen Be­handlungsmethode eine besondere Aufgabe zu: Während er die Patientinnen bei vollem Bewusst­sein am Gehirn operiert, beschäftigt Meret sie mit Aufgaben oder Geschichten. Dies zeigt ihm, ob er an der richtigen Stelle ins Gewebe schneidet und die Teile abklemmt, die bei den Frauen psy­chische Leiden auslösen und sie damit unfähig machen, als produktives Mitglied der Gesellschaft zu funktionieren. Meret ist lange davon über­zeugt, dass sie mit ihrer Arbeit etwas Gutes tut. Bis eine Patientin mit bleibenden Schäden aus der Operation hervorgeht. Die unbequeme Tochter aus gutem Haus fällt in einen komatösen Zustand. Merets Gewissheiten beginnen zu bröckeln, ihr Glaube an das Richtige bekommt Risse. Meret beginnt zu hinterfragen, ob eine Korrektur der Menschen der richtige Weg ist. Ob es nicht eher einer Korrektur der Gesellschaftsnormen bedarf. Mitgetragen wird dieses Erwachen davon, dass Meret sich in ihre neue Zimmergenossin im Schwesternheim verliebt. Die Beziehung nimmt auf leisen Sohlen ihren Anfang, auch weil sie nicht sein darf. Meret beginnt, sich von den star­ren Strukturen und Ideen zu verabschieden, sich als Frau und Mensch zu füh­len, nicht nur als ausführen­de Gewalt in einer strengen, entmenschlichten Hierar­chie.
Das Ende ist unvermutet positiv. «Frauen, die den Ausbruch wagen, enden in der Literatur und in Filmen allzu oft als Gescheiterte. Das ist wie eine dramaturgische Bestrafung. Ich wollte es anders machen», erklärt die Autorin Yael Inokai.

Inokai, Yael: Ein simpler Eingriff
München: Hanser, 2022. Ausleihe: DS 54255


Braille-Tipp

Gerda Blees: Wir sind das Licht

Elisabeth ist verhungert, umringt von ihrer Schwester Melodie sowie ihren Mitbewohnern Petrus und Muriel. Alle vier sind massiv unterer­nährt, wie der Notarzt feststellt. Die Polizei klassi­fiziert Elisabeths Ableben als fahrlässige Tötung und nimmt die drei Überlebenden fest. 25 unge­wöhnliche Erzähler, darunter die Nacht, das täg­liche Brot, die Zweifel oder die Nachbarn erzäh­len die Hintergründe zur esoterisch angehauchten Wohngruppe. Dass sie immer weniger gegessen und von Licht zu leben versucht hätten. Wenig zu essen ist kein Verbrechen. In einem freien Land kann jeder tun, was er will, sofern er dabei nie­manden verletzt. Aber hat die Gruppe tatsächlich niemanden verletzt? Immerhin ist ein Mensch tot. Die ermittelnde Kriminalbeamtin ist der Auffas­sung, dass Melodie drei empfängliche Menschen zu diesem Verhalten angestiftet hat.
Brillant und überraschend erzählt Gerda Blees die Hintergründe der Tragödie. Die ungewöhnlichen Erzählperspektiven bieten ein ungeahntes Poten­tial für subtile Komik.

Blees, Gerda: Wir sind das Licht
Wien: Zsolnay, 2022. Ausleihe: 3 Bd. 335 S.
Ausleihe: BG 38044


Information

Alle vorgestellten Bücher sind ausleihbar bei der
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