Hörbuch- und Lesetipps 1/2023
Hörbuch-Tipp
Yael Inokai: Ein simpler Eingriff
Krankenschwester Meret hat die Begabung, mit den vorwiegend weiblichen Patientinnen eine Bindung aufzubauen, die die Grenze zwischen Nähe und Distanz wahrt. Der Chefarzt wird auf sie aufmerksam und weist ihr bei einer neuen Behandlungsmethode eine besondere Aufgabe zu: Während er die Patientinnen bei vollem Bewusstsein am Gehirn operiert, beschäftigt Meret sie mit Aufgaben oder Geschichten. Dies zeigt ihm, ob er an der richtigen Stelle ins Gewebe schneidet und die Teile abklemmt, die bei den Frauen psychische Leiden auslösen und sie damit unfähig machen, als produktives Mitglied der Gesellschaft zu funktionieren. Meret ist lange davon überzeugt, dass sie mit ihrer Arbeit etwas Gutes tut. Bis eine Patientin mit bleibenden Schäden aus der Operation hervorgeht. Die unbequeme Tochter aus gutem Haus fällt in einen komatösen Zustand. Merets Gewissheiten beginnen zu bröckeln, ihr Glaube an das Richtige bekommt Risse. Meret beginnt zu hinterfragen, ob eine Korrektur der Menschen der richtige Weg ist. Ob es nicht eher einer Korrektur der Gesellschaftsnormen bedarf. Mitgetragen wird dieses Erwachen davon, dass Meret sich in ihre neue Zimmergenossin im Schwesternheim verliebt. Die Beziehung nimmt auf leisen Sohlen ihren Anfang, auch weil sie nicht sein darf. Meret beginnt, sich von den starren Strukturen und Ideen zu verabschieden, sich als Frau und Mensch zu fühlen, nicht nur als ausführende Gewalt in einer strengen, entmenschlichten Hierarchie.
Das Ende ist unvermutet positiv. «Frauen, die den Ausbruch wagen, enden in der Literatur und in Filmen allzu oft als Gescheiterte. Das ist wie eine dramaturgische Bestrafung. Ich wollte es anders machen», erklärt die Autorin Yael Inokai.
Inokai, Yael: Ein simpler Eingriff
München: Hanser, 2022. Ausleihe: DS 54255
Braille-Tipp
Gerda Blees: Wir sind das Licht
Elisabeth ist verhungert, umringt von ihrer Schwester Melodie sowie ihren Mitbewohnern Petrus und Muriel. Alle vier sind massiv unterernährt, wie der Notarzt feststellt. Die Polizei klassifiziert Elisabeths Ableben als fahrlässige Tötung und nimmt die drei Überlebenden fest. 25 ungewöhnliche Erzähler, darunter die Nacht, das tägliche Brot, die Zweifel oder die Nachbarn erzählen die Hintergründe zur esoterisch angehauchten Wohngruppe. Dass sie immer weniger gegessen und von Licht zu leben versucht hätten. Wenig zu essen ist kein Verbrechen. In einem freien Land kann jeder tun, was er will, sofern er dabei niemanden verletzt. Aber hat die Gruppe tatsächlich niemanden verletzt? Immerhin ist ein Mensch tot. Die ermittelnde Kriminalbeamtin ist der Auffassung, dass Melodie drei empfängliche Menschen zu diesem Verhalten angestiftet hat.
Brillant und überraschend erzählt Gerda Blees die Hintergründe der Tragödie. Die ungewöhnlichen Erzählperspektiven bieten ein ungeahntes Potential für subtile Komik.
Blees, Gerda: Wir sind das Licht
Wien: Zsolnay, 2022. Ausleihe: 3 Bd. 335 S.
Ausleihe: BG 38044
Information
Alle vorgestellten Bücher sind ausleihbar bei der
SBS Schweizerische Bibliothek für Blinde, Seh- und Lesebehinderte: nutzerservice@sbs.ch, Telefon 043 333 32 32, www.sbs.ch