«Hey Siri…»: Innovationen im Dienst von Menschen mit Sehbehinderungen
von Françoise Taillens, Michel Bossart und Nina Hug
Mehr als eine Milliarde Menschen weltweit leben mit einer Sehbeeinträchtigung. Während 90 Prozent dieser Fälle medizinisch vermeidbar beziehungsweise heilbar wären, sind die restlichen 10 Prozent dieser Menschen auf Hilfsmittel oder neue medizinische Entwicklungen angewiesen, um selbstbestimmt leben zu können. Beim Abbau der Barrieren spielen technische Innovationen eine nicht zu unterschätzende Rolle.
Die 15-jährige Zürcherin Liv hat einen sogenannten «blassen Sehnerv». Nur auf 20 Zentimeter Entfernung kann sie überhaupt scharf sehen; ihre Sehkraft nimmt stetig ab. Für diese Erbkrankheit gibt es derzeit keine Heilung. Das Wissenschaftsmagazin «Galileo» hat Liv begleitet, als diese eine technologische Innovation zum ersten Mal testen durfte und mit ihr durch Zürich spazierte: Die «eSight 4»-Brille stimuliert die Aktivitäten der synaptischen Nerven, um die Weitergabe visueller Informationen an das Gehirn zu verbessern. «Geil», rutscht es ihr heraus, als sie die Brille aufsetzt und die Gesichter ihrer Mutter und ihrer Schwester aus zwei Meter Entfernung sehen kann. Mit dieser Hightech-Brille kann sie auch Kontraste und Farben erkennen und sogar besser sehen als Normalsehende: Mit einer Fernbedienung kann sie nämlich Einzelheiten in ihrem Sehfeld bis zu 24-fach heranzoomen und so Details in der Ferne perfekt erkennen. Was nach Science- Fiction klingt, ist es gar nicht. Für Menschen mit Makuladegeneration, diabetischer Retinopathie, Morbus Stargardt und anderen Erkrankungen kann diese Brille, die in Deutschland für 7800 Euro zu haben ist, tatsächlich lebensverändernd und gesellschaftlich integrierend sein.
Eine unwürdige Vergangenheit Wenn man die Vergangenheit kennt, kann man die Tragweite solcher technologischer Entwicklungen und ihre Auswirkungen auf die gesellschaftliche Integration von Menschen mit Behinderungen besser einschätzen. Denn im Laufe der Geschichte wurden Menschen mit Behinderungen immer anders behandelt als Menschen, die den gesellschaftlichen Normen entsprachen. Erst die 1960er und 1970er Jahre markierten einen Wendepunkt in der Stigmatisierung von Menschen mit Behinderungen. Schritt für Schritt entstand eine Mentalität, die die Achtung der Menschenwürde und die Integration in die Gemeinschaft propagiert. Technologische Innovationen sind Teil dieser Bewegung zur Bekämpfung der Diskriminierung von Betroffenen geworden. Sie tragen zur Umsetzung von Chancengleichheit, Teilhabe, Zugänglichkeit und voller und wirksamer Integration in die Gesellschaft bei. Ein selbstbestimmtes Leben zu führen, keine Hilfe bei der Ausübung einer bestimmten Tätigkeit zu benötigen, sich fortbewegen zu können, zu arbeiten, all dies ist dank einer Vielzahl von Innovationen und Dienstleistungen möglich.
Abbau von Barrieren durch Innovationen
Innovationen setzen dabei im Grossen und Ganzen auf drei verschiedenen Ebenen an:
1. Direkt bei der Ursache der körperlichen Einschränkung: bei Menschen mit Sehbehinderung zum Beispiel an den Strukturen im Auge, der Stimulierung von bestimmten Regionen im Hirn oder allenfalls sogar im Genom.
2. Bei der Rehabilitation: Damit sind Innovationen im Fokus, die das Erlernen von Dingen, die vor dem Eintreten der Sehbehinderung möglich waren, schneller und besser ermöglichen.
3. In der Umwelt: Technische Innovationen, die durch die Umwelt verursachte Barrieren abbauen, zum Beispiel solche, die den Ersatz von visuellen Informationen durch Audio-Informationen erleichtern oder Innovationen, die gleichzeitig mehrere Sinne gleichberechtigt ansprechen.
Der Eingriff am Körper Lange erhoffte man sich, dass Menschen mit einer Netzhautdegeneration dank Retina-Implantaten wieder sehen können. Eine Gruppe von Forschenden der Uni-Klinik Tübingen startete 2003 eine klinische Prüfung mit zehn Retinis-pigmentosa- Patienten. Alle Pilotstudienteilnehmenden sahen mit dem eingesetzten Netzhaut-Chip wieder ein wenig besser: Zwar keine Farben und Details, sie konnten aber Lichtquellen, grobe Linien, Ecken und Kanten erkennen. Doch 2019 war Schluss mit dem Projekt: Studienleiter Alfred Stett sagte gegenüber dem Deutschlandfunk, dass die Implantate die Erwartungen der Patientinnen und Patienten letztlich nicht erfüllen konnten. Es sei völlig illusorisch, meinte Stett, anzunehmen, dass man mit einem Netzhautimplantat je wieder Zeitung lesen könne. Und um lediglich ein paar Linien im Falschfarbenschema zu sehen, dafür wolle sich niemand unters Messer legen.
Erfolgsversprechender scheint die optogenetische Gentherapie zu sein: Durch die Genomsequenzierung können erbliche Erkrankungen der Fotorezeptoren des Auges behandelt werden. Seit über zehn Jahren arbeiten Forschende um Prof. Dr. Botond Roska von der Universität Basel an dieser Behandlungsart, bei der Zellen so verändert werden, dass sie lichtempfindliche Proteine produzieren. Erste Studienresultate zeigen, dass eine optogenetische Gentherapie zur partiellen Wiederherstellung der Sehfähigkeit machbar ist: Fünf Monate, nachdem ein Patient die Gentherapie erhalten hatte, konnte er das Sehtraining mit einer speziell entwickelten Kamerabrille aufnehmen. So stabilisierte sich die Produktion des lichtempfindlichen Proteins ChrimsonR in den Zellen der Netzhaut. Sieben Monate später berichtete der Patient über Anzeichen einer Sehverbesserung: Er konnte Objekte auf einem weissen Tisch vor seinen Augen lokalisieren, berühren und zählen; allerdings nur mit der Spezialbrille. Die Hoffnungen auf medizinische Innovationen sind zwar vorhanden, aber ihre Anwendbarkeit für grosse Gruppen von Betroffenen derzeit nicht in Sicht.
Smartphone sei Dank
Die rasanten technischen Entwicklungen im Softwarebereich unterstützen sehbeeinträchtige Menschen bei der Rehabilitation genauso wie bei der Habilitation. Sprachausgabe-Softwares verwandeln Bildschirminhalte in Sprache und helfen Sehbeeinträchtigen dabei, Texte auf einem Computer oder Smartphone zu lesen und verstehen. Braille-Zeilen wandeln die Texte in Braille-Schrift um. Auch beschreiben Navigationssysteme wie BlindSquare die Umgebung und geben Strassenkreuzungen und wichtige Punkte an, während sich die sehbeeinträchtigte Person bewegt. Wird das Smartphone also zum weissen Stock des 21. Jahrhunderts? Wahrscheinlich nicht: Um sich auf der Strasse bewegen zu können, werden Menschen mit einer Sehbeeinträchtigung auch in Zukunft auf den weissen Stock angewiesen sein. Aber die technischen Innovationen der letzten Jahre erleichtern Betroffenen den Alltag sehr.
Mehrere Sinne ansprechen
Damit sehbeeinträchtigte Menschen Filme, Fernsehsendungen und andere visuelle Medien besser verstehen können, wird auf die Technologie der Audiodeskription zurückgegriffen. Grafiken können taktil so gestaltet werden, dass Sehbeeinträchtigte die visuellen Informationen ertasten können. Zu den taktilen Grafiken zählen zum Beispiel 3D-Modelle, Braille-Karten oder Reliefdrucke. «Haptic Feedback» wird verwendet, um visuelle oder audiovisuelle Informationen in taktilen Formen zu präsentieren. Mit einer Vibration kann dem Benutzer eines Smartphones zum Beispiel die Bestätigung seiner Eingabe angezeigt werden. Was künstliche Intelligenz (KI) noch leisten kann, darauf gibt die App «Be my Eyes» einen kleinen Vorgeschmack: Mithilfe des Textroboters ChatGPT kann die App blinden und sehbehinderten Menschen helfen, Dinge genauer zu «sehen» Es braucht nun keinen Menschen mehr, der via App den Betroffenen die Augen «leiht», die KI springt hier schon zuverlässig ein.
Innovation Boosters unterstützt von Innosuisse
Um das Interesse von Forschenden im Bereich der Innovationen für Menschen mit Behinderungen zu fördern, vergibt das Programm «Innovation- Booster Technologie und Behinderung» der Fondation pour la Recherche en faveur des personnes Handicapées FRH jährlich rund 250‘000 Franken. Der Booster finanziert Machbarkeitsstudien (5000 Franken), explorative Forschung (10‘000 Franken) und Prototypen (10‘000 Franken). In den vergangenen zwei Jahren wurden rund 30 Projekte unterstützt. Benjamin Nanchen, Verantwortlicher des Living Lab Handicap, erklärt, dass drei Teams im Bereich Sehbehinderung arbeiten: zu 3DDruck von Lehrmaterial (Hochschule Ostschweiz), zur Zugänglichkeit und Lesbarkeit von Dokumenten (Verein Plein-Accès) und zu taktilen Kochplatten (Fachhochschule Luzern). Je nach den erzielten Ergebnissen setzen die Teams ihr Projekt fort, indem sie entweder einen neuen Aspekt ihrer Idee entwickeln oder einen Antrag auf Finanzierung bei einer Organisation wie Innosuisse, der Schweizer Agentur zur Förderung von Innovation, stellen. Benjamin Nanchen fasst zusammen: «Unsere Absicht ist es, die Erfolgsaussichten der Projekte zu verbessern und den Teams die Möglichkeit zu geben, mit ihrer Arbeit zu beginnen». So können Innovationen noch viele Barrieren abbauen.