Herausforderung Spitalaufenthalt: Wie Menschen mit Sehbeeinträchtigung optimal betreut werden
Wenn sehbeeinträchtigte Menschen ins Spital oder zum Arzt müssen, stossen sie oft auf unnötige und vermeidbare Barrieren. Missverständnisse bei der Terminvereinbarung und mangelhafte Kommunikation im Klinikalltag führen zu zusätzlichem Stress und Unsicherheit. Das muss nicht sein: Gute Kommunikation ist das A und O.
Von Michel Bossart
Wenn sehbeeinträchtigte Menschen eine ärztliche Untersuchung brauchen oder ins Spital müssen, begegnen sie oft unnötigen und einfach zu vermeidenden Barrieren. Eine 64-jährige geburtsblinde US-Amerikanerin hat in einem Beitrag für das Magazin «American Family Physician» über ihre Erfahrungen berichtet. Der Artikel ist zwar schon etwas mehr als zehn Jahre alt, das Beschriebene hat aber nichts an Aktualität eingebüsst. Schon bei der Terminfindung gab es bei der blinden Patientin das erste Missverständnis: Sie bat die Arztpraxis um eine telefonische oder eine Terminerinnerung per E-Mail, erhielt aber einen Brief – natürlich in Schwarzschrift – per Post.
Eine Ergotherapeutin in Lausanne berichtet von ähnlicher Ignoranz der Bedürfnisse einer sehbehinderten Klientin im Spital: Diese bat darum, das Personal möge sich beim Eintritt in das Zimmer bitte jedes Mal mit Namen und Funktion vorstellen und sagen, für welches Vorhaben sie das Zimmer betreten, damit sie die ihr fehlenden visuellen Informationen kompensieren könne. Eine entsprechende Information dazu hätte an der Zimmertür angebracht werden können. Auf diese Bitte ging das Spital jedoch nicht ein. Als die Klientin eine Pflegerin aufforderte sich vorzustellen, erhielt sie von dieser die Antwort, sie habe sich ja am Morgen schon vorgestellt.
Ebenfalls kommt es häufig vor, dass Personen mit einer Sehbeeinträchtigung, die von einer Begleitperson geführt werden, nicht persönlich angesprochen werden. Stattdessen erkundigen sich das Pflegepersonal oder die Ärzte bei der Begleitperson nach Details zum Befinden der eigentlichen Patienten.
Nicht wenige sehbeeinträchtigte Patienten, die ins Spital müssen, zum Beispiel weil sie den Arm gebrochen haben oder am Blinddarm operiert werden, berichten, dass das Krankenhauspersonal nicht immer klar und direkt mit ihnen kommuniziere. Dies führe zu Unsicherheiten und Stress. Dabei ist es für Menschen mit einer Sehbeeinträchtigung sehr wichtig, die nähere Umgebung gut beschrieben zu bekommen. So zum Beispiel die Bedienung des Betts oder die Nutzung von Einrichtungen wie dem Notrufknopf.
Vorzeigebeispiel Augenklinik
Mario Wesemann ist diplomierter Pflegefachmann und arbeitet seit anderthalb Jahren in der Augenklinik des Universitätsspitals Zürich und sagt, dass das Thema «Sehbeeinträchtigung» während seiner Ausbildung vor 15 Jahren tatsächlich nur kurz gestreift wurde. «Als ich in Zürich zur Augenklinik kam, gab es dann aber einen Einführungskurs, an Teamsitzungen werden wir immer wieder auf das Thema sensibilisiert und wir besuchen auch regelmässig Weiterbildungskurse. » Doch was, wenn der sehbeeinträchtigte Patient nicht in die Augenklinik, sondern zum Beispiel in die Traumatologie kommt? Wesemann sagt: «Wir befinden uns in einem regen Austausch mit den Kollegen anderer Abteilungen. Die Kollegen und Kolleginnen kommen auch proaktiv auf uns zu und holen sich bei uns Ratschläge. » Eines sei klar: Für blinde und sehbeeinträchtigte Patienten müsse man sich mehr Zeit nehmen, weil sie mehr Unterstützung bräuchten.
Zeit gibt es genügend
Meistens werden die Patientinnen oder Patienten in der Augenklink vom Freiwilligendienst auf die Station gebracht. «Dann stellen wir uns vor und achten darauf, dass wir dabei im Blickfeld des Patienten stehen.» Danach wird die Person aufs Zimmer begleitet, nachdem erfragt wurde, wie sie gerne geführt werden wolle. «Im Zimmer erklären wir alles von A bis Z; sagen wo sich das Lavabo befindet, wo das Badezimmer.» Stolperfallen wie Sitzgelegenheiten und Tische werden an die Wand geschoben und in Mehrbettzimmern bekommen blinde und sehbeeinträchtigte Patientinnen und Patienten immer das Bett in der Nähe des Bades, so dass sie mit den Stolperfallen gar nie in Berührung kommen.»
Und nein, Zeit sei überhaupt kein kritischer Faktor. Es sei eingeplant, dass bei dieser Patientengruppe halt alles etwas länger dauere. «Das ist auch wirklich wichtig und richtig», unterstreicht Wesemann. Dijana Vujovic ist operative Pflegeleiterin bei der Klinik Hirslanden in Zürich, wo man ähnlich vorgeht. Sie sagt: «Ein besonders effektives System ist das Uhrprinzip, das bei uns angewendet wird. Beim Uhrprinzip erklären wir den Patientinnen die Position von Gegenständen im Raum oder auf dem Tisch anhand eines imaginären Zifferblatts einer Uhr. Zum Beispiel sagen wir dem Patienten: ‹Auf 12 Uhr befindet sich das Dessert und auf 14 Uhr steht die Kaffeetasse.› Diese Methode hilft den Patientinnen und Patienten, sich besser zu orientieren und selbstständig auf die benötigten Gegenstände zuzugreifen.
Wie Pflegefachkräfte anderer Abteilungen des Universitätsspitals auf das Thema «Sehbeeinträchtigung » sensibilisiert werden, kann Wesemann nicht sagen. Er bestätigt aber, dass das vom SZBLIND herausgegebene Spitalmerkblatt auf seiner Station bekannt sei. Mit dieser Broschüre werden die wichtigsten Punkte im Umgang mit sehbeeinträchtigten Patienten beschrieben: In vier kurzen Kapiteln werden die Themen: «Reden Sie mit mir», «Zeigen Sie mir meine Umgebung», «Erklären Sie mir mein Essen» und «Verschieben Sie meine Sachen nicht» kurz und bündig erklärt. Wesemann ist einverstanden: «Das Wichtigste im Umgang mit sehbeeinträchtigten Patienten ist die Kommunikation. Nur so kann das Vertrauen erfolgreich aufgebaut werden.» Wenn die eingewiesenen Patientinnen oder Patienten zusätzlich alle ihre Hilfsmittel mitnehmen, könne eigentlich nichts mehr schiefgehen, sagt er zuversichtlich und bedauert, dass die Führhunde aus hygienischen Gründen im Spital verboten seien.
Sorgfältige Pflegeanamnese
In den Spitälern der Insel Gruppe gibt es die interne Leitlinie «Sehbehinderung – Für den Umgang mit sehbehinderten und blinden Menschen im Spital». Die Leitlinie fokussiere auf die Selbstversorgung, Mobilität, Ernährung, Kommunikation und Körperpflege von sehbehinderten Menschen im Akutspital sowie auf spezifische Aspekte der Ein- und Austrittsplanung, wie auf Anfrage bestätigt wurde. Zudem umfasse sie auch die Patienten- und Angehörigenedukation für das medikamentöse Selbstmanagement für die Anwendung von Augentropfen im Kontext der Sehbehinderung.
Auf die Frage, was Sehbeeinträchtigte dazu beitragen können, das Klinik- und Pflegepersonal besser auf den Umgang mit ihnen hin zu sensibilisieren, lautet die Antwort ähnlich wie die von Wesemann: «Hilfreich ist eine proaktive, frühzeitige Kommunikation, sowohl bezogen auf die Art und Schwere der Beeinträchtigung sowie die Unterstützung, die sehbeeinträchtige Menschen benötigen oder wünschen. Wichtig ist zudem, dass die Patientinnen und Patienten möglichst ihre eigenen, ihnen bekannten Hilfsmittel mitbringen. » Missverständnisse können aber trotzdem auftreten. So sei es für Pflegende nicht immer ganz einfach, die Sehstärke der zu pflegenden Person auf Anhieb richtig festzustellen. Und es könne vorkommen, dass den Pflegefachkräften die mitgebrachten Hilfsmittel nicht geläufig oder bekannt seien. Eine sorgfältig durchgeführte Pflegeanamnese ist darum ein wichtiges Instrument. Das strukturierte Eintrittsgespräch fokussiert darum immer auch auf die Bedürfnisse sowie die Beeinträchtigung des Patienten oder der Patientin.
Tipps fürs Praxispersonal
Zurück zur blinden US-Amerikanerin, die sich über einen missglückten Arztbesuch aufgeregt hat. Sie gibt in ihrem Artikel Tipps im Umgang mit sehbeeinträchtigten Menschen, die nicht nur beim Besuch bei der Hausärztin, sondern auch im Kontext eines Spitalaufenthalts praktisch sind:
- Erkundigen Sie sich, wie Ihre Patientinnen oder Patienten Unterlagen erhalten möchten (auf Papier, in Grossdruck, per E-Mail usw.). Überlegen Sie sich auch ein geeignetes System zur Kennzeichnung von Medikamenten. Lassen Sie zum Beispiel durch die Apotheke drei Gummibänder um eine Flasche mit Tabletten binden, die dreimal täglich eingenommen werden.
- Lesen Sie immer laut vor, was Sie in die Krankenakte schreiben.
- Lassen Sie alle Mitarbeitenden Namen und Funktion nennen, wenn sie den Raum betreten, auch wenn sie Namensschilder tragen.
- Sprechen Sie den Patienten oder die Patientin direkt an, anstatt die sehende Begleitperson im Raum zu fragen: «Hat er/sie…?»
- Erklären Sie dem Patienten oder der Patientin, welches Verfahren Sie vorhaben, und lassen Sie ihn oder sie, wenn möglich, die Geräte zuerst anfassen. Leiten Sie Verbandswechsel usw. an, damit diese zu Hause selbst durchgeführt werden können.
- Verabschieden Sie sich, bevor Sie den Raum verlassen, damit der Patient oder die Patientin nicht mit sich selbst spricht.
- Wenn Sie einen dieser Tipps vergessen und das Gespräch schlecht verläuft, entschuldigen Sie sich und versuchen Sie es erneut. Es ist nicht das erste Mal, dass jemand wegen der Sehbehinderung einer Person unbeholfen ist und es wird auch nicht das letzte Mal sein. Wir wissen es zu schätzen, dass wir Ihnen sagen dürfen, wie wir es am liebsten haben.