Gerd Bingemann geht in Frühpension
Am 1. Dezember 2020 ist Gerd Bingemann seit genau 33 Jahren beim SZBLIND. Nebst allen Posten, die er im SZBLIND während der vergangenen Jahren bekleidete, zog sich die Information der Öffentlichkeit zu Sehbehinderung und Blindheit wie ein roter Faden durch seine Karriere.
Von Nina Hug und Matthias Bütikofer
«Mitschuldig» an seiner Anstellung beim SZBLIND war kurioserweise Radio-Legende Fredy Weber. Im OLMA-Studio interviewte der Redaktor des Regionalstudios Ostschweiz Gerd Bingemann zum Tag des weissen Stocks. Zum Schluss der Sendung liess der gewiefte Gerd einfliessen, dass er, frisch von der Uni, noch eine Stelle suche. Rosemarie Lüthi, damals im Vorstand der Regionalgruppe Ostschweiz des Schweizerischen Blindenbundes, bekam dies von einer Freundin mit und leitete den Tipp weiter an Peter Schweizer, damaliger Geschäftsführer des SZBLIND. Sie wusste, dass im SZBLIND eine sehbehinderte Person für den Bereich der Hilfsmittel gesucht wurde.
Sein Auftrag zu Beginn war es, das Hilfsmittel-Sortiment des SZBLIND zu konsolidieren. Der Hilfsmittelkatalog musste überarbeitet, die Entwicklungen sowie das Bestellwesen überdacht werden. Auch baute er eine Hilfsmitteltestgruppe aus betroffenen Personen auf, die neue Produkte auf ihre Praxistauglichkeit hin beurteilten.
Als Gallus Erne neuer Geschäftsführer des SZBLIND wurde, ernannte er Gerd Bingemann zum Ressortleiter Hilfsmittel. In dieser Zeit musste entschieden werden, wie man mit den blindentechnischen Hilfsmitteln verfahren wollte. Sprachausgabe und Braillezeilen schloss der SZBLIND aus seinem Sortiment aus. Hingegen wurde ein Versuch gestartet, ein Sortiment elektronischer Orientierungs- und Mobilitätshilfen aufzubauen. «Wirklich überzeugt hat damals keines dieser Hilfsmittel, so dass wir es bei einem Versuch beliessen», erzählt Gerd Bingemann. Schmunzelnd fügt er hinzu: «Dass ich im Jahr 2020 im Rahmen der Öffentlichkeitsarbeit des SZBLIND für das Schweizer Fernsehen einen Test der Ultraschall-Langstöcke und -Orientierungssysteme machen würde, hätte ich damals auch nicht gedacht». Nebst der Arbeit am Sortiment wurden unter Gerd Bingemann die Hilfsmittelvertriebsstellen aufgebaut.
Ein erneuter Wechsel in der Chefetage brachte Gerd Bingemann auf den Posten, an dem er heute noch ist: die Interessenvertretung. Matthias Bütikofer, ab 2002 Geschäftsleiter des SZBLIND, erkannte das Potenzial des gelernten Juristen für die Institutionelle Interessenvertretung. Bereits als Leiter Hilfsmittel hatte sich Gerd in etlichen Kommissionen für die Interessen des SZBLIND eingesetzt.
Als Interessenvertreter war Gerd Bingemann geschickter Verhandler: Er verstand es, Menschen mit unterschiedlichen Interessen an einen Tisch zu bringen, setzte gezielt Selbsterfahrungs-Aktionen unter Dunkelbrille bei Entscheidungsträgern ein und konnte so einige beachtliche Erfolge erzielen.
So zum Beispiel setzte er durch, dass die Treppenkanten auf den Bahnhöfen besser markiert wurden. Nach vielen Diskussionen konnte er den verantwortlichen Baubereichsleiter der SBB dazu gewinnen, einmal mit der Simulationsbrille «Sehbehinderung» des SZBLIND die Bahnhofstreppe hinunter zu gehen. Diese erschreckende Sensibilisierung für die Sicht betroffener Menschen machte grossen Eindruck auf den Baubereichsleiter. Nach der Begehung vor Ort wurde nicht mehr über das «ob» diskutiert, sondern nur noch über das «wie» und «wann» der Einführung.
Geschickt unkonventionell war auch das Vorgehen zur Abwendung des unseligen Zustands, die Leitlinien auf dem Perron bis zu den Treppen zu unterbrechen: Die Auszeichnung des Bundesamts für Verkehr mit dem «Kaktus der Woche» verhalfen zu einem Gespräch mit BAV-Direktor Füglistaler. Gerd Bingemann nahm kurzerhand eine Dunkelbrille und ein Stück Leitlinie mit in dessen Büro, um zu simulieren, wie es ist, wenn die Leitlinien auf einmal weg sind. «Ich sagte ihm: Vom Abzweiger bis zu ihrer Linie dort, müsste man gemäss Ausführungsbestimmung jetzt die Linien im neuen Tiefbahnhof Löwenstrasse Zürich wegraspeln. Macht eine solche Lücke Sinn?». So vor Augen geführt, leuchtete es wohl ein, dass ein Leitsystem mit Lücken einen nutzlosen Flickenteppich auf dem Bahnhof darstellt.
Dass es für die Beseitigung von Barrieren teilweise einen langen Atem und viel Geduld braucht, zeigt das Beispiel der Durchsetzung des kostenlosen Versands verschlossener Hilfsmittel-Postpakete. Acht Jahre Kondition hat es gebraucht, um diese Einigung zu erzielen. Nachdem Vorstösse zur Änderung der AGB und dann der Postverordnung nicht zum Erfolg führten, hat der direkte Kontakt zu Doris Leuthard schliesslich den Durchbruch ermöglicht. Anschliessend wurden mit dem UVEK und der Post die konkreten Lösungen ausgearbeitet. Mit Pensionierung von Gerd Bingemann werden die ersten verschlossenen Blindensendungen in der Schweiz verschickt werden können.
Nicht zuletzt aufgrund der zunehmenden Hörbehinderung wird der inzwischen erblindete Gerd Bingemann unser Haus per Ende Jahr verlassen, aber eine wichtige Arbeit im Sinne des SZBLIND weiterführen: die Dunkelworkshops. Hunderte Male hat er vor Erstklässlern bis zu KPMG-Managern in Dunkelworkshops über Sehbehinderung und Blindheit gesprochen und seinen Gegenübern unter Dunkelbrille einen Eindruck davon vermittelt, was es heisst, sich mit anderen Sinnen als dem Sehsinn zu orientieren.
Wir danken Gerd Bingemann für seinen grossen Einsatz zugunsten blinder und sehbehinderter Menschen. Gerd Bingemann war mit seiner charismatischen, intelligenten und kommunikativen Wesensart im SZBLIND eine markante und allseits über alles geschätzte Persönlichkeit. Was auch immer Gerd Bingemann im SZBLIND anpackte, es ist ihm auf unbeschreibliche Weise gelungen, Menschen zusammenzuführen, sie für Ziele zu begeistern und ihnen Wege hin zur Umsetzung aufzuzeigen. Gerd Bingemann hat damit im SZBLIND deutliche Spuren hinterlassen. Wir werden uns auf diesen, seinen Pfaden mit Stolz und Zuversicht weiter bewegen! Wir alle danken dem begnadeten und einzigartigen Botschafter aller sehbehinderten Menschen für alle seine grossartigen Beiträge, die wir in der Summe fortan als sein Lebenswerk betrachten.
Wir alle wünschen Gerd für seine Pensionierung Freude und viele erfüllte, sorgenfreie Momente. Der SZBLIND und Gerd Bingemann werden immer Freunde bleiben.