Fazit: mangelhaft – Unzureichende Massnahmen für ein barrierefreies Leben
Teilrevision Behindertengleichstellungsgesetz – BehiG
Die Teilrevision des Behindertengleichstellungsgesetzes (BehiG) schreitet voran. Inclusion Handicap und der SZBLIND haben anfangs April ihre Vernehmlassungsantworten eingereicht. Der Leiter Interessenvertretung vom SZBLIND, Jan Rhyner, erklärt, wo die Teilrevision aus Sehbeeinträchtigtenperspektive mangelhaft ist.
Von Michel Bossart
Das Behindertengleichstellungsgesetz (BehiG) soll mit dem Ziel, die Benachteiligungen von Menschen mit einer Behinderung zu beseitigen, teilrevidiert werden. Das Eidgenössische Departement des Innern (EDI) unter der Leitung von Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider hat die geplante Revision in die Vernehmlassung geschickt. SZBLIND hat den Entwurf studiert und anfangs April eine Vernehmlassungsantwort eingereicht. Jan Rhyner, beim SZBLIND verantwortlich für die Interessenvertretung, sagt dazu: «Die Teilrevision beabsichtigt, das BehiG zu verbessern, wir glauben aber, dass das Potenzial nicht ausgeschöpft wurde.» In seiner Vernehmlassungsantwort ersucht der SZBLIND darum, den Vorentwurf tiefgreifend zu überarbeiten und verweist dabei auch auf andere hängige politische Geschäfte auf nationaler Ebene, den Staatenbericht zur Umsetzung der UNO-BRK und auf die «Inklusionsinitiative », die im Herbst 2024 eingereicht wird.
Zwei grosse Mängel
«Wir arbeiten eng mit dem Dachverband Inclusion Handicap zusammen», bestätigt Rhyner, «und unsere Antwort stützt sich auf dessen Mustervernehmlassungsantwort. » Bei der Teilrevision habe der Bund seinen Fokus vor allem auf die Themenbereiche «Arbeit» und «Dienstleistungen Privater » gerichtet. «Unserer Meinung nach wurden dabei zwei Themen sträflich vernachlässigt», sagt Rhyner und meint damit erstens den öffentlichen Verkehr. Er erklärt: «Die Nutzung des öffentlichen Verkehrs soll allen Menschen mit einer Beeinträchtigung spontan und autonom möglich sein. Die entsprechende Umsetzungsfrist ist abgelaufen, das Resultat aber ernüchternd.» Der SZBLIND fordert eine verbindliche Nachfolgeregelung: Schweizweit erfüllten beispielsweise nur gerade 33 Prozent aller Bushaltstellen und auch nicht alle Bahnhöfe die gesetzlichen Vorgaben. «Im Hinblick auf die mangelhafte Umsetzung ist es für uns nicht nachvollziehbar, warum in der Teilrevision keine neuen Massnahmen für die rasche und vollständige Umsetzung getroffen werden », bedauert Rhyner.
Der zweite grosse Kritikpunkt ist der Baubereich: «Auch 20 Jahre nach Inkrafttreten des BehiG bleiben Menschen mit einer Behinderung von vielen Orten des gesellschaftlichen Lebens ausgeschlossen », stellt Rhyner fest. Der SZBLIND fordert darum, dass der Geltungsbereich des BehiG nicht nur auf Neubauten und bewilligungspflichtige Umbauten, sondern auch auf bestehende Bauten und Anlagen – unabhängig von einem Umbau oder einer Renovation – ausgeweitet wird. Und: «Wenn das BehiG nur bei Mehrfamilienhäusern mit neun und mehr Wohnung Anwendung findet, ist das gerade auf dem Land ungenügend, wie wir feststellen mussten. Auch, dass Arbeitsstätten erst mit 51 und mehr Arbeitsplätzen BehiG- konform gebaut oder renoviert werden müssen, ist im Hinblick auf die Inklusion fragwürdig», erklärt Rhyner. Der SZBLIND fordert darum, dass Wohnbauten bereits ab vier Wohnungen und Geschäftsbauten ab 25 Arbeitsplätzen (oder die grösser als 500 Quadratmeter sind) die Vorgaben des BehiG erfüllen müssen.
Behindertenorganisationen einbeziehen
Auch in den übrigen Punkten schliesst sich der SZBLIND der Vernehmlassungsantwort von Inclusion Handicap an. Insbesondere wird in Bezug auf die Terminologie verlangt, nicht einmal von «Diskriminierung » und einmal von «Benachteiligung» zu sprechen, sondern sich vielmehr auf das Wort «Benachteiligung» zu beschränken, wie es der Titel des Gesetzes eigentlich beabsichtigt. In Bezug auf das Kapitel «Dienstleistungen» begrüsst der SZBLIND, dass der Zugang zu öffentlich zugänglichen Dienstleistungen für Menschen mit einer Behinderung gestärkt wird. Er mahnt aber auch, dass es mit dem Zugang (Accessibility) allein nicht getan ist. «Gerade für Menschen mit Sehbehinderung ist die zweite Ebene – die Usabilty – ebenso wichtig», sagt Rhyner und erklärt: «Bei digitalen Dienstleistungen zum Beispiel reicht der blosse Zugang nicht aus. Hier muss gewährleistet werden, dass der Anwender oder die Userin die Dienstleistung mit Hilfe ihrer technischen Hilfsmittel wie etwa einem Screenreader oder einer Braillezeile tatsächlich bedienen kann. Das nennt man dann digitale Barrierefreiheit.»
«Weiter widerspricht das Vorgehen den Grundsätzen der UNO-BRK», fährt Rhyner fort, «da die Behindertenorganisationen bei der Ausarbeitung der Teilrevision des BehiG nicht einbezogen wurden. » Ohne Zweifel, relativiert er, sei das Vernehmlassungsverfahren ein bewährtes Instrument des Einbezugs der Schweizer Zivilgesellschaft, aber es komme zu einem Zeitpunkt, in dem das Gesetzgebungsprojekt konzeptionell bereits so weit fortgeschritten sei, dass grundlegende Anpassungen nicht mehr ohne wesentliche Verzögerungen vorgenommen werden könnten. Rhyner verweist dabei auf das vorbildliche Vorgehen der Kantone Basel-Stadt, Basel-Landschaft und Wallis, wo entsprechende kantonale Vorentwürfe mit engen Konsultationen und einem aktiven Einbezug von Betroffenen und der Behindertenorganisationen aufgegleist wurden. «Das wäre also auf Bundesebene ebenfalls realisierbar gewesen», findet Rhyner. Inclusion Handicap und der SZBLIND fordern darum, dass der Vernehmlassungsentwurf unter engem Einbezug der Behindertenorganisationen überarbeitet wird.
Anpassung der Finanzierungsgrundlage und Stärkung des EBGB
Seit dem Inkrafttreten des Invalidenversicherungsgesetzes im Jahr 1959 hat sich das Rechtsgebiet, in dem die Behindertenorganisationen ihre Dienstleistungen erbringen, grundlegend verändert. «Doch die finanzielle Unterstützung, die der Bund den Behindertenorganisationen zukommen lässt, beruht immer noch auf der damaligen Regelung», sagt Rhyner. Im Rahmen der BehiG-Revision seien darum Grundlagen für die Finanzierung derjenigen Arbeiten zu schaffen die die Behindertenorganisationen im Zusammenhang mit der Umsetzung der UNO-BRK leisteten, lautet eine weitere Forderung.
Darüber hinaus soll das EBGB (Eidgenössisches Büro für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderung) ein Bundesamt werden und dem EBG (Eidgenössisches Büro für die Gleichstellung von Mann und Frau) gleichgestellt werden. Derzeit ist das EBGB im Generalsekretariat des EDI verankert, das EBG aber ein eigenes Bundesamt. Rhyner sagt dazu: «Es gibt keinen sachlichen Grund für diese Unterscheidung auf der Ebene der institutionellen Hierarchie. Eine Aufwertung zum Bundesamt ist darum angezeigt.»
Es gibt noch viel zu tun
In Sachen Gleichstellung gebe es noch weitere Themenbereiche, die vom Bund in seinem Vernehmlassungsentwurf gar nicht beachtet worden seien. «Der ganze Bildungsbereich zum Beispiel findet überhaupt keine Erwähnung», konstatiert Rhyer. Als Beispiele nennt er die Tertiärstufe, wo in Bezug auf Menschen mit einer Beeinträchtigung nicht nur katastrophale bauliche Mängel vorherrschten, sondern auch auf Unterrichtsstufe nicht angepasst gearbeitet werde. Personen mit Blindheit oder Sehbehinderung erhalten dort für sie nicht barrierefreie Unterlagen, wie beispielsweise eingescannte PDF-Dateien. Aber auch beim öffentlichen Verkehr gebe es neben den gesetzlich vorgeschriebenen baulichen Massnahmen auch Themen, die ebenfalls Eingang in ein Gesetz finden könnten: «Im ÖV ist es sinnvoll», so Rhyner, «wenn alle Informationen nach dem Mehrsinnesprinzip zugänglich wären. Akustisch und visuell oder allenfalls auch taktil, dort, wo es angezeigt ist.»
Zusammenfassend kann gesagt werden: Wären Betroffene und/oder die Behindertenorganisationen bei der Ausarbeitung des Vernehmlassungsentwurfes zum BehiG miteinbezogen worden, wären solche nicht unrelevanten Lücken im Vorentwurf bereits von Anfang an aufgedeckt worden.