Arbeiten in der Low Vision: Was die Spezialistinnen sagen

Was meinen eine Augenärztin, eine Optikerin und zwei Ergotherapeuten zur Low Vision- Arbeit? Experten aus dem Fachgebiet beantworten fünf Fragen.

Von Karin Schwarz, Optikerin, auf Low Vision spezialisiert
Von Marie-Paule Christiaen und Daniel Nicolet, spezialisierte Ergotherapeuten
Von Dr. Sabine Delachaux, Augenärztin

Welche sind Ihrer Meinung nach die Hauptherausforderungen in der Low Vision-Arbeit?

Die Benutzung von optischen Hilfsmitteln wie einer elektronische Lupe ist nur ein Teil in der interdisziplinären Arbeit von Low Vision-Fachpersonen.  Bild: Sylvie Moroszlay, réhabilitation visuelle

Die Benutzung von optischen Hilfsmitteln wie einer elektronische Lupe ist nur ein Teil in der interdisziplinären Arbeit von Low Vision-Fachpersonen.
Bild: Sylvie Moroszlay, réhabilitation visuelle

K. Schwarz: Für uns geht es natürlich in erster Linie darum, den Patienten oder die Patientin wieder möglichst selbstständig zu machen. Bei meiner Arbeit liegt das Hauptgewicht auf der Information. Ich muss dafür sorgen, dass die betroffenen Personen ihre Rechte und das System in ihrer Region kennen. Ich erkläre ihnen ausserdem ihre Sehleistung und lasse sie mit optischen Hilfsmitteln, die ihren Bedürfnissen entsprechen, Versuche machen.
M.-P. Christiaen und D. Nicolet: Der Ergotherapeut oder die –therapeutin sorgt bei seiner Low Vision-Arbeit dafür, dass die betroffene Person wieder Vertrauen in ihre Fähigkeiten fasst, auch wenn sie schlechter sieht. Die Wiedereingliederungsarbeit betrifft die Person selbst und die Tätigkeit in ihrer Umgebung, die für sie sinnvoll ist.
Dr. S. Delachaux: Die Zusammenarbeit zwischen den Beteiligten – das sind die Allgemeinmediziner, ein Augenarzt, eine Optikerin, ein Orthoptist, eine Ergotherapeutin, ein Krankenpfleger oder eine Sozialarbeiterin – ist wesentlich. Die Informationsbeschaffung und die Organisation der diversen Termine sind deswegen manchmal für Patienten mit Augenproblemen kompliziert. Aufklärungskampagnen und Austauschmöglichkeiten unter Fachpersonen ermöglichen es, betroffene Personen zu informieren und ihnen optimal zu helfen.

Low Vision ist eine interdisziplinäre Arbeit: Warum?

K. Schwarz: Die Low Vision-Arbeit besteht aus mehreren Etappen, die zwangsläufig den Einbezug anderer Fachleute erfordern: zuerst der Augenarzt, dann die spezialisierte Low Vision-Optikerin und/oder die Ergotherapeutin.
M.-P. Christiaen und D. Nicolet: Die Kompetenzen der einzelnen Berufe vervollständigen sich gegenseitig. Jeder geht eine Situation auf seine berufsspezifische Art an: Ergotherapeuten, die sich für die Person in ihrer Gesamtheit, ihre Tätigkeiten und ihren Kontext interessieren, berücksichtigen die Vorschläge der anderen Fachpersonen und integrieren sie in den Lebensraum der Patientin oder des Patienten.
Dr. S. Delachaux: Der Sehsinn ist komplex und vielschichtig: Berücksichtigt werden müssen die Gesundheit von Auge und Gehirn, psychologische Aspekte, der Lebensweg der Patienten und Patientinnen, ihr allgemeiner Gesundheitszustand und das Alter. Deshalb führt eine multidisziplinäre Betreuung zu besseren Ergebnissen als eine monodisziplinäre, selbst wenn der behandelnde Fachmann oder die Fachfrau eine weit gefächerte Ausbildung auf mehreren Gebieten hat.

Wie funktioniert konkret diese Interdisziplinarität? Wie sieht der typische Ablauf einer Betreuung eines Patienten mit einem Sehproblem aus?

K. Schwarz: Eine Person, die sich wegen ihren Augen Sorgen macht, richtet sich zuerst an ihren Augenarzt oder ihre Augenärztin. Diese werden sie dann an mich überweisen. Ich zeige dem Patient oder der Patientin die für sie passenden Hilfsmittel und lasse sie sie ausprobieren. Nachher schicke ich meine Klienten meistens zu einer Ergotherapeutin, der den Umgang mit den Hilfsmitteln trainiert oder deren Gebrauch prüft.
M.-P. Christiaen und D. Nicolet: Das Sehproblem und seine Konsequenzen für die betroffene Person werden oft bei einer augenärztlichen Untersuchung identifiziert. Was die Interdisziplinarität betrifft, hat der CIR, eine Stelle des ABA, eine Low Vision-Beratung mit vom SZBLIND ausgebildeten Spezialisten und Spezialistinnen eingerichtet. Ergotherapeuten entscheiden, ob eine optische Beratung nötig ist, und stellen die dafür nützlichen Dokumente bereit.
Dr. S. Delachaux: Neuere augenärztliche Abklärungen müssen unbedingt vorliegen, um die richtige Diagnose zu fällen und sicher zu sein, dass dem Patienten oder der Patientin alle medizinischen und operativen Behandlungsmöglichkeiten unterbreitet worden sind. Die Patientinnen und Patienten werden dann theoretisch an ein Low Vision-Zentrum, einen Optiker oder eine Ergotherapeutin verwiesen. In der Praxis wenden sich Patienten manchmal direkt an ein Zentrum oder eine Low Vision-Spezialistin Es ist in einem solchen Fall wichtig, dass die ophthalmologische Abklärung trotzdem wiederholt wird.

Wie verlaufen erfahrungsgemäss die Untersuchungen bezüglich Low Vision und Wiedereingliederung?

K. Schwarz: In meiner Praxis beurteile ich erst das Sehvermögen. Ich mache Sehtests und dann Untersuchungen mit verschiedenen Beleuchtungen und Filtern. Anschliessend messe ich den Vergrösserungsbedarf und schlage ein Hilfsmittel vor, das den Gewohnheiten und Bedürfnissen der Person entspricht.
M.-P. Christiaen und D. Nicolet: Die erste Low Vision-Beurteilung findet meistens zu Hause statt. Die Ergotherapeutin beobachtet und analysiert die Umgebung der Person, wo sie ihre Tätigkeiten ausführt. Mittel und Hindernisse werden beschrieben oder von der Ergotherapeutin identifiziert. Heutzutage wird in der Low Vision relativ viel Zeit damit verbracht, die Hilfsmittel zu sichten und herauszufinden, ob sie optimal eingesetzt werden.
Dr. S. Delachaux: Die Abklärungen führen die Ergotherapeutin, der Optiker oder die spezialisierte Orthoptistin durch. Hierbei geht es darum, erst die Anliegen des Patienten oder der Patientin zu beurteilen und dann die funktionellen Messungen vorzunehmen. Anhand dieser wird dann entschieden, ob als nächstes die Brille angepasst, ein Hilfsmittel zugelegt, die Umgebung angepasst oder ein Training zum exzentrischen Sehen angefangen werden soll.

Welche Irrtümer oder Missverständnisse im Umgang mit älteren sehbehinderten Menschen kommen immer wieder vor?

K. Schwarz: « Warum behauptet der Augenarzt, es gäbe keine stärkere Brille, und wenn ich zum Low Vision-Optiker gehe, komme ich mit einer stärkeren Brille aus dem Geschäft? » Das ist eines der häufigsten Missverständnisse bei der Low Vision-Arbeit. Für konventionelle Leseentfernungen gibt es tatsächlich keine stärkeren Brillen. Aber wenn man die Distanz dank eines optischen Hilfsmittels ändert, kann man sich anders helfen und das restliche Sehvermögen verbessern.
M.-P. Christiaen und D. Nicolet: Manchmal meinen unsere älteren sehbehinderten Klienten und Klientinnen, dass sie nach unserem Eingreifen wieder sehen werden wie mit 20, oder dass wir ihnen eine grosse starke Lupe anbieten werden, die alle Probleme lösen wird. Nahestehende wehren sich gelegentlich gegen die hohen Kosten von gewissen Hilfsmitteln oder von sichtbaren Anpassungen. Es kommt auch vor, dass ein betagter Mensch zögert, ein kostspieliges Hilfsmittel zu kaufen, weil er meint, dass er unter Umständen nicht mehr viel davon haben wird.
Dr. S. Delachaux: Missverständnisse können sich auch aus der Vielzahl der Ansprechpartner ergeben, wenn diese nicht zusammen arbeiten und Informationen vermitteln, die der Patient oder die Patientin als widersprüchlich empfindet. Diese Informationen werden manchmal zu wenig verständlich oder zu schnell gesagt. Im Fall von alten Menschen können noch Faktoren hinzukommen wie andere Behinderungen und Autonomieverlust sowie Verständnis- oder Gedächtnisschwierigkeiten. Daher ist der Einbezug des Hausarztes und des Pflegepersonals gegebenenfalls wichtig.

Interviews mit weiteren Fachpersonen finden Sie auf www.schlechtsehen-gutleben.ch

Das Gespräch führte Carol Lagrange