Ein Pilotprojekt mit viel Erkenntnisgewinn
„Sehbehindert im Alter mit Spitex“
Menschen, die im Alter eine Sehbehinderung bekommen, sollen selbstständiger und länger zu Hause bleiben können. Damit steigt die Lebensqualität; mittelfristig stabilisieren sich die Gesundheitskosten oder sinken sogar. Um dies zu fördern, haben das Kompetenzzentrum für Sehbehinderung im Alter (KSiA) und die Spitex Zürich Sihl das Kooperationsprojekt „Spitex-SiA“ (Sehbehindert im Alter mit Spitex) gestartet.
von Fatima Heussler und Magdalena Seibl
Das Kompetenzzentrum für Sehbehinderung im Alter (KSiA) bietet bereits seit längerer Zeit Schulungen für stationäre Alterseinrichtungen an. In einer Alterseinrichtung erleben die Mitarbeitenden die Bewohner und Bewohnerinnen sieben Tage pro Woche. Spitex-Mitarbeitende dagegen sehen ihre Klienten und Klientinnen oft nur kurz – und auch nicht immer täglich. Es ist leichter, eine beginnende Sehbehinderung gegenüber einer Spitex-Mitarbeiterin versteckt zu halten, als gegenüber dem Personal einer Alterseinrichtung.
In einer stationären Alterseinrichtung kann eine Umgebung, die sehbehindertenfreundlich ist, viel Entlastung bringen und auch motivieren, einen neuen Umgang mit Sehbehinderung zu lernen. Zuhause jedoch sind die betroffenen Menschen von Laien umgeben. Dort gibt es wenige Kenntnisse über Sehbehinderung. Mitarbeitende der Spitex haben hier einen Informationsauftrag.
(Kästchen)
Das Projekt „Spitex-SiA“ besteht aus drei Teilen: Schulungen für die Teams der Pflege und Hauswirtschaft/Betreuung, in denen es um die im Alter auftretende Sehbehinderung geht und was dies für Pflege und Betreuung bedeutet, dann eine wissenschaftlich basierte Wirkungsanalyse und drittens die Information über die Resultate der Schulungen gegen aussen. Finanziert wird das Projekt von Förderstiftungen und von KSiA.
Sehbehinderungsspezifische Unterstützung durch die Spitex
Die Spitex bietet bekanntlich Pflege-, Hauswirtschafts- und Betreuungsleistungen an. Bei Klientinnen und Klienten, die nach einem „sehenden Leben“ im Alter eine Sehbehinderung bekommen, werden hauswirtschaftliche Arbeiten oder Betreuungsleistungen notwendig. Alle Spitex-Leistungen sollen Menschen in ihrer Selbstständigkeit unterstützen, nach dem Spitex-Motto „Hilfe zur Selbsthilfe“: beispielsweise durch Fördern ihrer motorischen Fähigkeiten oder durch Fachbegleitung bei angstmachenden Aspekten der Sehbehinderung. Dann können sie mehr Selbstvertrauen gewinnen, wieder Kontakt aufnehmen oder in Gesellschaft gehen. Bei einer neu auftretenden Sehbehinderung ist Früherkennung besonders wichtig, damit möglichst wenig pflegerische Abhängigkeit entsteht. All das zeigt: Für eine optimale Unterstützung von sehbehinderten Klienten und Klientinnen sind hauswirtschaftliche Mitarbeitende ebenso wichtig wie Pflegefachpersonen.
Schulung verändert die Wahrnehmung
Im Schulungsteil des Projekts erkannten die Pflegefachpersonen, dass vieles in der Pflege alter Menschen mit dem Verlust von Sehfähigkeit und visueller Wahrnehmung in Verbindung steht: Eine Sehbehinderung im Alter hat oft Auswirkungen auf die Mobilität, auf den Kreislauf, auf Ess- und Trinkverhalten und weitere Körperfunktionen, auf das Sozialverhalten und vieles mehr.
Zu Beginn der Schulung schätzten die Mitarbeitenden des Spitex-Teams die Zahl der Klientinnen und Klienten, die von einer Sehbehinderung im Alter betroffen waren, auf zwei bis drei Personen. Ein Jahr später gaben sie als Schätzung 20 bis 30 Personen an. Sehbehinderung wird heute früher erkannt. In den meisten Fällen verläuft ein Gespräch mit den betroffenen Personen positiv – die Mitarbeitenden berichteten, dass sich ihre Klientinnen und Klienten sicherer und besser verstanden fühlten. Zudem schätzten die Spitex-Mitarbeitenden, dass sie in der Schulung die Beratungsstelle des Blindenbunds und sein Angebot kennenlernten.
Konkrete positive Wirkungen
In der ersten Projektphase zeigte sich, dass sich die geschulten Spitex-Mitarbeitenden aus den Bereichen Hauswirtschaft / Betreuung und Pflege auch ein halbes Jahr nach Abschluss der Schulungen für das Thema Sehbehinderung engagierten. Sie kannten Zusammenhänge zwischen „Altersbräschte“ und Sehbehinderung und waren in der Lage, Hinweise auf eine Sehbehinderung zu erkennen, auch wenn keine Diagnose vorlag. Sie verfügten nun über Methoden im Umgang mit Betroffenen. Die Wirkungsanalyse zeigte eine Reihe erfreulicher Resultate: So trug die fachliche Information darüber, warum Sehbehinderung und Demenz häufig verwechselt werden, dazu bei, dass eine sehbehinderte Frau in ihrer Alterswohnung bleiben konnte und nicht in eine Pflegeabteilung wechseln musste. Mit einer anderen Klientin wurde eine Lösung zur Markierung ihrer Medikamentenbehälter gefunden. So konnte sie ihre Medikamente wieder selbstständig einnehmen und die Häufigkeit der Spitexbesuche konnte reduziert werden. Eine dritte Klientin konnte wieder selbstständig und sicher den Kochherd bedienen. Andernorts war bunte Badezimmerwäsche hilfreich zur Orientierung.
Die erste Projektphase zeigte aber auch Schwachpunkte auf, die zu Veränderungen führten: Das Schulungsprogramm wurde gestrafft und die sehbehinderungsspezifischen Massnahmen im Pflegeprozess wurden stärker gewichtet. Bei Spitex Zürich Sihl wurde die Funktion einer Fachverantwortlichen Sehbehinderung geschaffen. Die damit betraute Mitarbeiterin erhält aktuell eine vertiefte Schulung in sehbehinderungsspezifischer Pflege. Das Hauptprojekt Spitex-SiA geht weiter: Es wird auf mehrere Teams ausgeweitet, die Wirkungen werden fortlaufend untersucht. Die Projektbeteiligten haben das Ziel, dass sehbehinderungsspezifische Pflege und Betreuung bei der Spitex der öffentlichen Hand Standard wird.
Weitere Informationen zu KSiA und vertiefende Artikel auf unserer Website: www.ksia.ch