Dienstleistungserbringung „ohne Umwege“
Low Vision-Rehabilitation mit älteren Menschen: das „Berner-Modell“
Detaillierte Auswertungen von Klientendaten in der Beratungs- und Rehabilitationsstelle für Sehbehinderte und Blinde des Kantons Bern haben ergeben, dass eine unterschiedliche Vorgehensweise je nach Alter der Klienten sinnvoll ist. Ältere Menschen mit Sehbehinderung arbeiten hier mit einer „Low Vision-Generalistin“.
Von Markus Sutter
Wenn sich Menschen im IV-Alter, d.h. bis 64 resp. 65-jährig, an unsere Beratungs- und Rehabilitationsstelle wenden, werden sie federführend durch eine Sozialarbeiterin beraten. Sie ist verantwortlich für den ganzen Beratungsprozess und wird für individuelle Rehabilitationsmassnahmen durch entsprechend spezialisierte Fachpersonen unterstützt – diese kommen aus den Bereich Orientierung und Mobilität, Lebenspraktische Fähigkeiten, Low Vision oder ICT (Information and Communication Technology). Klienten in diesem Alterssegment haben oftmals komplexe Anliegen: Sie beschäftigen sich mit sozialversicherungsrechtlichen Fragen, stehen vor psycho-sozialen Herausforderungen, erfahren Mobilitätsbeeinträchtigungen, Integrationshürden in Arbeit und Beruf und allgemeine Beeinträchtigungen in der Alltagsbewältigung. Dies alles bedingt spezialisierte Dienstleistungen und eine zielgerichtete und aufgabenorientierte Fallführung.
Menschen mit einer Sehbehinderung im AHV-Alter hingegen werden durch eine „Low Vision-Generalistin“ durch den ganzen Beratungsprozess gelotst. Die Low Vision-Generalistin“ zeichnet sich dadurch aus, dass sie einen agogischen oder ergotherapeutischen Grundberuf ausübt und über besondere Kenntnisse der vergrössernden Sehhilfen, angepasster Sehstrategien und von Hilfsmitteln in den Bereichen Beleuchtung und Blendung verfügt. Sie ist auch in der Lage, Lösungen für ganz alltägliche Lebensverrichtungen mit den Klienten zu erarbeiten.
Möglichst wenig wechselnde Ansprechpartner
Im Unterschied zu jüngeren Klienten mit Sehbehinderung stellen sich die Problemlagen der älteren trotz hoher Komplexität in sich homogener dar. Mehrheitlich sind es die Folgen einer altersbedingten Makuladegeneration AMD: Beeinträchtigungen beim Lesen und Schreiben und visuell bedingte Einschränkungen in der Kommunikation und Partizipation, also Gesichter nicht mehr erkennen können, sowie Unsicherheiten beim Gehen oder Probleme beim Telefonieren. Die Low Vision-Generalistin ist nicht nur fallführend, sondern setzt auch gleich selbst die allermeisten Beratungs- und Rehabilitationsmassnahmen um. Die Anzahl der Kontaktpersonen wird dadurch für die älteren Personen mit einer Sehbehinderung so tief wie möglich gehalten. Dieses Konzept setzt ein breites Verständnis von Low Vision-Rehabilitation voraus, das sich nicht nur auf vergrössernde Sehhilfen beschränkt.
Das Modell der altersabhängig unterschiedlichen Fallführung und des ergotherapeutischen Ansatzes im Low Vision-Bereich hat sich unseres Erachtens bewährt. Es orientiert sich konsequent an den Anliegen der Klienten und zielt auf eine Dienstleistungserbringung „ohne Umwege“ ab. Dieses Modell ist in seiner Konsequenz „bern-typisch“ und am ehesten vergleichbar mit Dienstleistungskonzepten von Beratungsstellen in der Romandie. Es gibt eine klare Aufgabenteilung und eine intensive Zusammenarbeit zwischen Sozialberatung und Rehabilitation.
Für eine optimale Umsetzung unseres Dienstleistungskonzepts ist nebst der hohen und vielfältigen Fachkompetenz natürlich auch die Zusammenarbeit mit dem Umfeld bedeutsam. Wichtige Partnerorganisationen sind u.a. Spitex-Vereine und Pro Senectute. Im Low Vision-Fachbereich sind es im Speziellen die Augenoptiker und die Ophthalmologen. Im Kanton Bern verfügen wir über ein besonders gut funktionierendes Netz an engagierten und kompetenten Augenoptikern und -optikerinnen. Sie sind verantwortlich, um vergrössernde Sehhilfen für sehbehinderte Personen definitiv anzufertigen. Handwerkliches Geschick, Kreativität, Geduld und Kulanz sind ihre Stärken. Im Idealfall wurde vorgängig durch Low Vision-Fachpersonen der Beratungsstelle ein Hilfsmittel-Training durchgeführt.
Kriterienkatalog für die Triage wäre hilfreich
Wir schätzen ebenfalls die unterstützende Arbeit der Ophthalmologen und Ophthalmologinnen. Sie sind nicht nur zuständig für medizinische Belange, sondern auch entscheidend für die Triage und für die Motivation der Patientinnen und Patienten. Da beginnt die Interdisziplinarität ausdrücklich nicht erst, wenn man „medizinisch nichts mehr machen kann“. Speziell bei degenerativen Augenerkrankungen sind Rehabilitationsmassnahmen in Regelkreisen naheliegend. Verbesserungsmöglichkeiten in unseren Beratungsabläufen sehen wir aktuell vor allem in den Bereichen der Triage und dem Aufnahmeverfahren von neuen Klientinnen und Klienten. So sind wir der Meinung, dass in Kooperation mit den Ophthalmologen die Erarbeitung eines klar definierten Kriterienkatalogs die Triage noch vereinfachen und vereinheitlichen könnte.
Ältere Menschen sind nicht anders als jüngere und sie haben nicht mehr und nicht weniger Anspruch auf kompetente Beratung und Rehabilitation. Anliegen, Interessen, Problemkreise können sich aber altersspezifisch unterscheiden. Dies darf in Beratungskonzepten durchaus berücksichtigt und wiedergefunden werden. Die Form bleibt – es sind vielleicht bloss Unterschiede in den Farbnuancen.
Markus Sutter ist Leiter Rehabilitation der Beratungs- und Rehabilitationsstelle für Sehbehinderte und Blinde des Kantons Bern, BRSB (www.brsb.ch)