Die Berufsbildung sehbehinderter oder blinder Menschen:
Neue Perspektiven und Entwicklungen in der Westschweiz
Von Jacqueline Gyger, Frédéric Schütz, Vassilia Vevopoulou und David Rodriguez
Die Berufsbildung und der Eintritt ins Berufsleben von betroffenen jungen Menschen waren schon immer ein wichtiges Ziel des Centre pédagogique pour handicapés de la vue (CPHV). Angesichts der Schwierigkeiten, mit denen junge Menschen mit besonderen Bedürfnissen in diesen Übergangsphasen konfrontiert sind, konzentriert man sich heute auf verschiedene Massnahmen in Zusammenarbeit mit den IV-Stellen.
Bis heute gibt es relativ wenig Berufe, die für blinde oder sehbehinderte Personen infrage kommen. Und bei diesen Berufen spielt die Informationstechnologie häufig eine wichtige Rolle. Kaufmännische oder Kaufmännischer Angestellter, Büroassistent, Informatikerin, Telefonist oder auch Masseur und Physiotherapeutin gehören zu den beliebtesten. Eine abschliessende Liste „möglicher“ Berufe existiert jedoch nicht. Jeder Mensch ist anders; daher muss bei der Berufswahl einerseits das Individuum mit seinem Potenzial, seinen Ressourcen und seinen Grenzen, die sich insbesondere aufgrund der Sehbehinderung ergeben, und andererseits die mögliche Arbeitsplatzanpassungen bei potenziellen Arbeitgebern berücksichtigt werden.
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Ein Blick in die Praxis
Lange Zeit hegte ein sehbehinderter junger Mann den Wunsch, als «Fachmann Betreuung» zu arbeiten. Doch angesichts der gesellschaftlichen Vorstellungen gegenüber Menschen mit Sehbehinderung war er anfänglich davon überzeugt, dass ihm dieser Beruf – abgesehen von einer ehrenamtlichen Tätigkeit – nicht offen stünde. Vor allem kamen auch Sicherheitsaspekte im Zusammenhang mit den Personen, die er begleiten müsste, ins Spiel. Am Ende seiner ersten Praktikumswoche in einem Alters- und Pflegeheim war er dann aber überrascht, dass er die ihm übertragenen Aufgaben genauso gut erledigen konnte wie seine Arbeitskollegen und –kolleginnen. So leitete er selbständig verschiedene Programme, darunter einen Gymnastikkurs.
Natürlich wird er die Bewohner und Bewohnerinnen einer solchen Einrichtung bei Ausflügen nie mit dem Minibus fahren und auch keine Zeitungsartikel vorlesen können. Doch seine zwischenmenschlichen Fähigkeiten und die Tatsache, dass er als Mann in einem oft klassisch weiblichen Tätigkeitsfeld arbeitet, bringen auch Vorteile für seine berufliche Eingliederung. Das Alters- und Pflegeheim, in dem er sein Praktikum absolviert, bietet ihm nun eine Lehrstelle an. Um jedoch herauszufinden, was für ihn auf dem Arbeitsmarkt im Bereich des Möglichen liegt, und um sich nicht nur auf eine Einrichtung zu beschränken, absolviert er noch ein weiteres Praktikum in einem anderen Heim. Gleichzeitig besucht er Kurse, um speziell für sehbehinderte Personen entwickelte IT-Tools anwenden zu können. Somit beherrscht er diese, wenn er in der Berufsschule schreiben und digitale Schulbücher lesen wird.
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Neue Leistungsangebote des CPHV
Zusammen mit den Westschweizer IV-Stellen hat das CPHV zwei neue Angebote entwickelt, um das Leistungsangebot für die nachobligatorische Schulzeit abzurunden:
- Berufsberatung: Diese soll aufzeigen, welche beruflichen Vorhaben realistisch und umsetzbar sind. Abhängig von den jeweiligen Möglichkeiten der Personen und den Vereinbarungen mit den IV-Stellen erfolgt die berufliche Ausbildung anschliessend direkt im Unternehmen oder innerhalb einer spezialisierten Ausbildungsstätte.
- Spezifische Vorbereitung auf den Antritt einer Berufsausbildung: Damit soll ein möglichst selbständiger Umgang mit den IT-Tools und Informatik-Hilfsmitteln erreicht werden, die auf die Bedürfnisse von sehbehinderten Personen zugeschnitten sind.
Beide Angebote sind sowohl für Jugendliche mit Sehbehinderung am Ende ihrer obligatorischen Schulzeit als auch für Erwachsene gedacht, die mit einer beruflichen Umschulung konfrontiert sind, weil sie aufgrund auftretender Sehprobleme nicht mehr ihrer angestammten Tätigkeit nachgehen können.
Wie werden diese Leistungen erbracht?
Die Berufsberatung unterteilt sich in zwei Hauptphasen: In einer ersten Phase finden innerhalb des CPHV Gespräche und Eignungstests statt, die spezifisch für sehbehinderte Personen angepasst sind (basic check). Fragebogen zu den eigenen Interessen werden ausgefüllt, und die ausserschulischen, beruflichen, in der Freizeit oder während Volontariaten erworbenen Fähigkeiten werden in Kompetenzprofilen erfasst. Damit sollen die Lebenserfahrung der jeweiligen Person, ihre Möglichkeiten, Grenzen, individuellen Wünsche etc. erkennbar werden. Und schliesslich sollen eine oder mehrere mögliche berufliche Laufbahnen aufgezeigt werden. Anschliessend werden die jeweiligen Möglichkeiten in der Praxis, zum Beispiel durch Praktika innerhalb von Unternehmen, überprüft. Bei der Berufsberatung steht ein interdisziplinärer Ansatz im Mittelpunkt: Lehrerinnen, Ärzte, Psychologinnen, Ergotherapeuten, IT-Schulungsleiterinnen und Vertreter von Ausbildungseinrichtungen und Unternehmen wirken mit.
Die spezifische Vorbereitung auf den Antritt einer Berufsausbildung folgt einem bestimmten Ablauf: Zuerst definiert man zusammen mit dem Auszubildenden die individuellen IT-Lernziele entsprechend des Berufszweigs oder der ins Auge gefassten Ausbildung. Während des Lehrgangs hat der oder die Auszubildende die Möglichkeit, das Gelernte in verschiedenen stiftungsinternen oder -externen Projekten – z. B. im Rahmen von Praktika – in die Praxis umzusetzen.
Eine schwierige, aber lösbare Aufgabe
Als Referenzzentrum für Sehbehinderung und angesichts eines sozio-ökonomischen Umfelds, in dem der Grundsatz «Eingliederung vor Rente» gilt, fällt dem CPHV bei der beruflichen Eingliederung eine Schlüsselrolle zu. Das Zentrum verfügt über spezifische bedürfnisgerechte Angebote, die bislang noch nicht in ausreichendem Umfang zur Verfügung stehen. Wir stehen vor einer sehr schwierigen, aber lösbaren Aufgabe. Damit wir jedoch die gewünschten Resultate erzielen, sind konzertierte Anstrengungen von allen Beteiligten erforderlich: von den betroffenen (jüngeren und älteren) Erwachsenen, den Fachpersonen im Bereich Sehbehinderung, aber auch von den Arbeitgebern, die bereit sind, ihre gängige Praxis anzupassen, sowie von sämtlichen zuständigen Behörden, die sich für die notwendigen Rahmenbedingungen einsetzen.
Frédéric Schütz ist Direktor des CPHV, Jacquline Gyger leitet den Bereich Ausbildung & Innovation, Vassilia Vevopoulou ist Psychologin und Berufsberaterin und David Rodriguez Berufsbildner.