Das Problem – für die anderen – ist oft der Hund
Die Sehkraft der 49-jährigen Janka Reimmann aus Winterthur wurde seit ihrem achten Lebensjahr immer schwächer. Heute gilt sie als blind. Das hält sie nicht davon ab, sich für die Anliegen von sehbeinträchtigen Menschen zu engagieren und auch nicht davon, ein aktives und möglichst selbstständiges Freizeitleben zu führen. Das ist aber leider nicht immer ganz barrierefrei zu geniessen, wie sie im Gespräch erzählt.
von Michel Bossard
Frau Reimmann, Sie sind Medienbotschafterin der Regionalgruppe Zürich des Schweizerischen Blindenbundes. Was bedeutet das genau?
Es gibt einige nationale und internationale Tage, die etwas mit dem Blindenwesen zu tun haben. Der «Tag des weissen Stocks» oder der «Tag der Blindenschrift», zum Beispiel. Gemeinsam mit dem Vorstand versuchen wir dann jeweils, etwas Interessantes aufzugleisen und laden die Medien dazu ein. Wenn andererseits Medienanfragen für ein Interview an den Blindenbund gelangen, suche ich eine geeignete Auskunftsperson. Eine andere Aufgabe ist die Medienarbeit an sich: Ich habe 2019 in vier Kurzfilmen für die Stadtpolizei Zürich mitgewirkt oder letztes Jahr für die Verkehrsbetriebe der Stadt Zürich. Es ging darum, was es für sehbeeinträchtigte und blinde Menschen bedeutet, mit den öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs zu sein. Mich hat man auch schon in Beiträgen auf Telezüri oder Teletop gesehen… (lacht).
Ist das Freiwilligenarbeit?
Ja, das mache ich ehrenamtlich. Ich habe noch einen anderen Job beim Blindenbund, der bezahlt ist: Ich besuche Schulklassen und sensibilisiere die Kinder für das Thema «Sehbehinderung ». Zurzeit sind es zwei Schulbesuche pro Woche. Mir ist diese Arbeit sehr wichtig. Je mehr man über das Thema weiss, desto mehr verliert man Hemmungen und kann helfen. Oder versteht, warum man nicht unbedingt auf Leitlinien stehen sollte. Um das geht es mir: Informationen darüber vermitteln, was uns Sehbeeinträchtigten Schwierigkeiten bereitet und was uns in welchen Situationen helfen könnte.
In einem Beitrag über Sie habe ich gelesen, dass Ihnen die Unabhängigkeit im Alltag sehr wichtig ist. Erzählen Sie.
Ja, die Unabhängigkeit und die Selbstständigkeit. Klar, im Alltag kann man in gewissen Situationen gar nicht anders, als jemanden zu fragen. Welcher Bus gerade eingefahren ist, zum Beispiel. Ich will aber so viel wie möglich selbst machen und nicht zu oft darauf angewiesen sein, dass ein Sehender etwas mit oder für mich macht. Darum ist es ja so wichtig, dass zum Beispiel die Tasten im Lift in Brailleschrift angeschrieben sind, dass es im Zug deutlich zu verstehende Durchsagen gibt und dass Leitlinien uns helfen, den Weg zu finden. Es sind kleine Sachen, die grosses bewirken.
Apropos Unabhängigkeit: Das gilt ja auch für die Freizeit. Wie sieht diese bei Ihnen aus?
Ganz ohne fremde Hilfe geht wohl nur spazieren. Ich kenne sicher fünf Wege, die ich mit meinem Führhund selbstständig gehen kann. Er darf dann auch mal frei springen. In der Kreativgruppe, in die ich gehe, brauche ich manchmal etwas Unterstützung. Ausflüge in andere Städte gehen auch, aber nur, wenn ich die Ortschaft schon kenne. Für das Lokalradio «Stadtfilter» habe ich auch schon Sendungen produziert, die etwas mit dem Alltag von Blinden und Sehbeeinträchtigten zu tun haben. «Blind und Mutter», beispielsweise, «Blind in der Arbeitswelt» oder «Sport und Blindheit». Diese Produktionen habe ich selbst erstellt und mithilfe einer Journalistin dann noch zusammengeschnitten und -geschrieben. Ansonsten stricke ich sehr gern. Das geht ganz gut. Nur wenn eine Masche runterfällt, muss ich sie ganz schnell wieder fischen, sonst ist sie verloren… (lacht).
Ein grosses Thema ist ja, dass viele Freizeitaktivitäten für sehbeeinträchtige Menschen nicht oder ungenügend zugänglich sind. Worüber ärgern Sie sich am meisten?
Ja, in der Tat: Wenn es heisst, dass mein Hund nicht mitkommen kann. Ich weise die Veranstalter dann darauf hin, dass Führhunde von Gesetzes wegen immer dabei sein dürfen. Wenn es im Saal keinen Platz für den Hund hat, dann gibt es ja die Möglichkeit, dass er in einem separaten Raum auf mich warten kann. Oder in der Garderobe. Wenn ich zum Beispiel ins Theater gehe, dann kündige ich meinen Besuch an, so dass sie sich auf die Situation vorbereiten können.
Und? Klappt das?
(lacht) Ich musste mir mein Recht erkämpfen, aber jetzt kennen Sie mich und es klappt wunderbar. Sie freuen sich sogar, wenn ich komme.
Und klappte es auch schon mal nicht?
Es gibt Kinos, die tun sich sehr schwer damit. Sagen, dass der Hund bei einem Notfall im Weg sei. Aber Hallo? Und was ist mit mir?! Wie käme ich im Notfall aus dem Saal?! Wie gesagt: bei vielen Kinos ist es kein Problem mehr und die anderen meide ich einfach. Auch bei den Thuner Festspielen haben sie anfangs furchtbar kompliziert getan. Am Schluss haben sie mich so weit nach oben gesetzt, dass nicht garantiert war, dass ich die Audiodeskription des Musicals hören konnte. Es hat aber funktioniert. Das ganze Theater davor hätte es aber nicht gebraucht…
Sie sprechen es an: Sommerzeit ist Festivalzeit: Theater, Musik, Openair und so weiter: Im Sommer werden Kulturveranstaltungen gerne draussen genossen. Sie haben im Rahmen der Stanser Musiktage einen Hörgang für sehbehinderte Menschen realisiert. Erzählen Sie!
Beim Hörgang handelt es sich um eine Art Stadtführung für blinde und sehbeeinträchtigte Personen. Auch Sehende können mitmachen und sich in einem Geschäft einen Weissen Stock und eine Dunkelbrille ausleihen. Die Führung beginnt beim Brunnen auf dem Gemeindeplatz. Die Teilnehmer laden sich die Wegbeschreibung runter und folgen meiner Stimme – Sie erleben die Stadt mit dem Gehör.
Sind sie mit dem Resultat zufrieden?
Ja, sehr. Es war zwar etwas schwierig, aber eine sehr spannende Erfahrung. Ich liebe solche Herausforderungen!
Gibt es weitere solche Hörgänge in anderen Schweizer Städten?
Meines Wissens nicht. Ich habe noch von keinem anderen Ort gehört, der solche Hörgänge anbietet.
Zurück zu den Sommerfestivals. Worauf müssen Veranstalter von Openair-Events im Gegensatz zu Indoor-Veranstaltungen besonders achten?
Persönlich finde ich Openair-Veranstaltungen für uns Sehbeeinträchtige schwierig. Es hat viele Leute auf sehr engem Raum. Da würde ich niemals mit meinem Hund hingehen. Wie man Openairs sehbeeinträchtigtengerechter gestalten könnte, weiss ich nicht.
Gehen Sie selbst an Openairs?
In Begleitung schon, aber nicht allein. Solche Veranstaltungen machen mich aber sehr müde, weil ich mich sehr konzentrieren muss, damit ich keine Leute anremple.
Was sind die häufigsten Fehler, die Veranstalter begehen – absichtlich oder nicht – und damit das Leben von sehbeeinträchtigten Besuchern unnötig erschweren?
Da kann ich nur nochmal den Hund erwähnen. Hunde gehören einfach zu uns und es wäre schön, wenn es für unseren Begleiter überall eine Lösung gäbe. Ich kann aber auch Positives sagen. Wenn ich mit meinem Weissen Stock zum Beispiel ins Hallenstadion komme, kommen sofort Platzanweiser und führen mich zu meinem Platz.
Ausser den Hunden gibt es nichts, das man verbessern könnte?
Vielleicht wäre es gut, wenn es für Sehbehinderte eigene Plätze am Rand gäbe, damit wir nicht mittendrin sitzen. Extraplätze, wie für Menschen im Rollstuhl.
Wenn Sie zurückdenken: Von welcher kulturellen Veranstaltung können Sie sagen, dass sie auch für sehbeeinträchtigte Menschen perfekt organisiert war?
Wenn das mit dem Hund nicht gewesen wäre, dann kann ich guten Gewissens die Thuner Festspiele nennen. Es gab ein ertastbares Modell der Bühne, Bildbeschreibungen und eine taktile Führung. Das war sehr cool!
Machen Sie Veranstalter auf unnötige Barrieren aufmerksam?
Ja, und zwar indem ich ein Mail an die Veranstalter schreibe und ihnen mitteile, was ich als hinderlich und störend empfunden habe.
Gibt es Reaktionen?
Die meisten sagen, dass sie sich meine Kritik zu Herzen nehmen und geloben Verbesserung. Ich hab dann allerdings nicht nachgeprüft, ob sie das auch umgesetzt haben…
Welche kulturellen Veranstaltungen besuchen Sie am liebsten?
Da ist einerseits das Theater. Da brauche ich nicht einmal eine Audiodeskription. Für mich ist das Theater eine andere Art von Hörspiel. Was auf der Bühne genau abgeht, ist nicht so wichtig. Ich verstehe trotzdem, um was es geht. Andererseits – das ist fast noch schöner als das Theater – gefallen mir Shows mit Komikern sehr gut.
Da sind sie ja mit dem Casinotheater Winterthur gut bedient…
(lacht) Ja, anfangs war es wegen des Hundes zwar ein Kampf, aber jetzt haben wir eine gute Lösung für alle gefunden.
Zum Schluss möchte ich Ihnen noch ein paar Entweder- oder-Fragen stelle. Okay? Oper oder Rockkonzert?
Rockkonzert, Opern mag ich nicht.
Regenwetter oder Sonnenschein?
Sonnenschein, aber nicht zu heiss, bitte. Am liebsten habe ich es, wenn es bewölkt ist. Das ist ideal zum Spazieren.
Berge oder Meer?
Das Meer, ich liebe es mit dem Schiff zu fahren.
Lesen oder Hörbuch?
Hörbuch, eindeutig. Die Brailleschrift lese ich nicht so gerne und brauche sie eigentlich nur, wenn ich unterwegs bin.
Sport oder Couch?
(lacht) Können wir die Frage überspringen? Es ist wohl beides. Ich bin gerne draussen und bewege mich, würde das aber nicht unbedingt Sport nennen. Andererseits erhole ich mich zum Ausgleich auch gerne auf der Couch.