Wer auf eine Augenprothese angewiesen ist, kann hierzulande zwischen einem Kunstauge aus Glas oder Kunststoff wählen. Welche Vor- und Nachteile diese beiden Materialien mit sich bringen, erklärt Friedrich Martin vom Schweizerischen Kunstaugen-Institut.

das Foto zeigt drei Glasaugen auf einem Tisch .
Augenprothesen können aus unterschiedlichen Materialien hergestellt werden. / Bild: zVg

Von Michel Bossart

Das Schweizerische Kunstaugen-Institut in Luzern ist ein klassisches Familienunternehmen: Die Geschwister Juliane und Friedrich Martin werden den Betrieb bald von ihrem Vater und ihrem Onkel übernehmen und damit von der fünften in die sechste Generation führen. Friedrich Martin sagt: «Meine Schwester und ich sind seit über zehn Jahren im operativen Geschäft tätig. Dass unser Vater und unser Onkel im Hintergrund noch mitarbeiten und wir auf ihr enormes Fachwissen zurückgreifen können, ist praktisch und schön.» Eine Spezialität des Instituts ist, dass es Augenprothesen sowohl aus Glas wie auch aus Kunststoff anbietet. Während sich die Schwester auf Glasaugen spezialisiert hat, hat Friedrich Martin in der Herstellung von Kunststoffprothesen seine Berufung gefunden. Dabei kann er von seiner Ausbildung als Zahntechniker profitieren. Er erinnert sich: «Als ich das erste Mal einen Okularistenkongress besucht habe, erschrak ich über die etwas veralteten Methoden, die im Kunststoffbereich angewandt wurden.» Irgendwie sollte es doch möglich sein, sagte er sich, die Kunststofftechniken aus der Zahnmedizin auch für Augenprothesen anzuwenden. Er schaute und hörte sich um und probierte verschiedene Materialien und Techniken aus: «Die Polymerisation, die in der Zahntechnik mit guten Ergebnissen und in den USA bereits für Augenprothesen angewandt wird, überzeugte mich am meisten», sagt er. Bei der Polymerisation handelt es sich um eine vielfach wiederholte Reaktionsfolge, bei der sich die Ausgangsstoffe (Monomere) über reaktive Doppelbindungen miteinander verbinden.
«Wenn wir Prothesen aus einem biokompatiblen, medizinischen Kunststoff im Heiss-Polymerisationsverfahren herstellen, schaffen wir eine Prothese von bester und gleichbleibender Qualität. Bei den Ausgangsmaterialien einer Glasprothese schwankt diese leider oft», fügt Friedrich Martin an.

Glas versus Kunststoff
In der Schweiz tragen etwa ein Promille der Bevölkerung eine Augenprothese, schätzt Friedrich Martin. Dabei halten sich Kunststoff- und Glasaugen in etwa die Waage. «Hierzulande vergüteten die Versicherungen lange Zeit nur Augenprothesen aus Glas. Es ist uns nun aber gelungen, dass auch Prothesen aus Kunststoff übernommen werden », sagt Martin. Er fährt fort: «Glas und Kunststoff sind zwei völlig verschiedene Materialien, die von den Patienten unterschiedlich gefühlt werden. Es ist darum sinnvoll, dass es auch in Zukunft Prothesen aus beiden Materialen geben wird.» Ein Vorteil von Kunststoff sei, dass die Prothesen dank des weicheren Materials praktisch unzerbrechlich sind und dass sie sich weniger kalt anfühlen, dies kann gerade im Winter von Vorteil sein. Augenprothesen aus Kunststoff können bei jährlicher Politur gut fünf Jahre getragen werden. Im Vergleich zu Glas sind Kunststoffprothesen aber anfälliger auf Kratzer. Martin erklärt: «Mit seiner sehr glatten und harten Oberfläche zerkratzt das Glasauge kaum und weil es biologisch inert ist, gab es noch nie Materialunverträglichkeiten. Der Nachteil ist die Zerbrechlichkeit und dass die Prothese jährlich gewechselt werden sollte.»
«Es dauert zwar länger, bis ein Kunststoffauge hergestellt ist», sagt Martin, «doch man kann oft individueller auf die Bedürfnisse der Patienten eingehen.» Er meint damit, dass Prothesen aus Kunststoff besser an Grösse und Form der Augenhöhle angepasst werden können als Glasprothesen. «Das wiederum hat den Nachteil, dass man nicht einfach zum Okularisten gehen und kurz darauf mit der Prothese wieder heimgehen kann. Da sind schon mindestens zwei Besuche notwendig. » Anders bei der Glasprothese: «Die Bearbeitung bei einer Temperatur um 600 Grad muss in einem Zuge geschehen, spätere Korrekturen sind unmöglich. Es ist also eine grosse Handfertigkeit gefordert, dafür bekommt der Kunde seine neue Prothese innerhalb von zwei Stunden».

Feinhandwerkliche Begabung
Augenprothetiker oder Okularist ist in der Schweiz kein Lehrberuf. Von den Versicherungsträgern wurde deshalb ein umfassendes Anforderungsprofil an die Hersteller festgelegt, das sich an Ausbildungsvorgaben in Deutschland und den USA anlehnt. Neben dem Erlernen der rein handwerklichen Tätigkeit wird Wert auf grosse praktische Erfahrung gelegt. Die Ausbildung in Deutschland dauert in der Regel über sechs Jahre, in den USA werden 10‘000 Stunden praktische Arbeit gefordert. Wer in der Schweiz Augenprothetiker oder Okularist wird, hat den Beruf meist im Familienbetrieb erlernt, wie die Geschwister Martin. Friedrich Martin sagt zu den Voraussetzungen: «Es braucht eine feinhandwerkliche Begabung und man muss mit Menschen, sprich Patienten umgehen können. Einfühlungsvermögen ist wichtig: wir Okularisten müssen spüren, was der Patient ohne Fachwissen uns sagt, die möglichen Probleme orten und beheben.»

In Zukunft aus dem Drucker
Relativ neu ist die Diskussion über Augenprothesen aus Resin, einem Kunststoff, der im 3D-Drucker verarbeitet wird. «Die Technik hat in den letzten Jahren grosse Fortschritte gemacht», sagt Martin, «gerade, weil verschiedene Formen und Grössen relativ einfach gedruckt werden können, sehen viele darin ein grosses Potenzial.» Aber: Vergessen werde oft, dass jede Augenprothese in Form, Grösse und Irisfarbe ein absolutes Unikat sei. Dies sei keine gute Voraussetzung für ein «Fliessbandprodukt». Die Glasprothese werde darum hierzulande nie ganz verschwinden. Sie habe gegenüber Kunststoffprothesen auch Vorteile – wie rasch sie hergestellt ist, zum Beispiel. Zumindest werde sie nicht in den nächsten zehn Jahre verschwinden, prognostiziert er vorsichtiger. Immerhin gebe es in den USA bereits jetzt nur noch Augenprothesen aus Kunststoff und keine mehr aus Glas.