Damit blinde Schüler und Schülerinnen im Unterricht gut mitkommen
Die Lehrmittelübertragung in Braille steht vor grossen Herausforderungen
Immer mehr blinde und schwer sehbehinderte Kinder und Jugendliche werden integrativ in Regelklassen beschult. Für sie ist der grösste Teil der Lehrmittel nur teilweise barrierefrei zugänglich. Für einen erfolgreichen Schulbesuch braucht es Lehrmittelübertragung in Braille, tastbare Reliefdrucke oder ein digitales E-Buch. Nachdem das Bundesamt für Sozialversicherungen BSV diese Lehrmittelübertragungen nicht mehr finanziert, müssen Schulen, Bibliotheken und Verlage die Zusammenarbeit weiter klären und verstärken.
Von Ann-Katrin Gässlein
Von der ersten Klasse an ist jeder Schüler und jede Schülerin, auf sie angewiesen: Mathematikbücher, die häufig wechseln, Geographiebücher, die längere Zeit im Einsatz sind, und daneben immer wieder Arbeitsblätter und Skripts. Blinde und schwer sehbehinderte Kinder brauchen diese Lehrmittel in Braille vom Eintritt in die obligatorische Schulzeit bis zum Abschluss der ersten beruflichen Massnahme (im Normalfall: Abschluss der ersten Lehre). Ein Zeitraum von gut und gerne 14 Jahren, den es abzudecken gilt.
Lehrmittelfreiheit allerorts
Flexible und spontane Lehrmittelübertragung ist eine Notwendigkeit, die sich in ihrer Schärfe eigentlich erst mit der Einführung der integrativen Sonderschulung gezeigt hat. In der separativen Sonderschulung sind die Bücher und Materialien für den Unterricht vorhanden. Diese werden mit den Pauschalen, welche von den Kantonen pro Schüler oder Schülerin bezahlt werden, finanziert. Die Situation der Schülerinnen und Schüler in der integrativen Sonderschulung wird schnell komplex. Der Bedarf von Lehrmitteln ist auf Individuen zugeschnitten: Sowohl die Kantone als auch die Lehrpersonen sind teilweise frei in der Wahl ihrer Lehrmittel. Auch innerhalb einer Klasse kommt es vor, dass die Schüler und Schülerinnen unterschiedliche Mittel verwenden; die Ausrichtung des Buches und die Begabungen und Lernmethoden der Schüler sind vielfältig. Zuletzt steht es allen Lehrpersonen frei, didaktische Unterlagen auch selbst zu entwickeln und Arbeitsblätter oder kleinere Skripts spontan zu produzieren: Armando Wigger, Leiter für Zentrale Dienste am Sonnenberg Baar, schildert es so: „Es kommt vor, dass Lehrpersonen am Wochenende ihre Stunden für die nächste Woche vorbereiten; und unsere Fachleute übertragen dann am Sonntag die Übungsblätter in Braille, die am Montag zum Einsatz kommen sollen.“
Etwas einfacher stellt sich die Situation bei den beruflichen Massnahmen dar: „Bei der KV-Lehre sind die Lehrmittel relativ standardisiert“, meint Wigger. Es gebe eben nur zwei oder drei Bücher, die sich mit Rechnungswesen beschäftigen, und nicht Dutzende. Vielfalt gebe es trotzdem, schliesslich machen blinde und sehbehinderte Jugendliche nicht nur KV-Lehren, sondern auch andere Berufslehren – und daher handelt es sich trotzdem meist um Einzelfälle.
Wer finanziert die Lehrmittelübertragung?
Eine politische Herausforderung für das Sehbehindertenwesen ist die Übertragung von Lehrmitteln in Braille seit dem Rückzug des Bundesamts für Sozialversicherungen BSV aus der Finanzierung. „Bis zur definitiven Umsetzung des Neuen Finanzausgleichs NFA hatte das Bundesamt die Übertragungen der Lehrmittel grundsätzlich übernommen“, erzählt Wigger. Dann begann ein schleichender Rückzug. Schon 2008 wurde festgehalten, dass die Kantone in fachlicher, rechtlicher und finanzieller Hinsicht für alle sonderpädagogischen Massnahmen von Kindern und Jugendlichen bis 20 Jahre zuständig sind. 2010 folgt das Kreisschreiben, dass es sich bei Lehrmitteln nicht um Hilfsmittel handle, und die Lehrmittelübertragung folglich ebenfalls in den Zuständigkeitsbereich der Kantone falle. Damit war aber noch nicht klar, ob die entsprechenden Schulbehörden oder die IV-Stelle zuständig sind. Erstere sind Ansprechpartner für die obligatorische Schulzeit, letztere für die Zeit der beruflichen Lehre.
Heute arbeiten die heilpädagogischen Sonderschulen, die Schülerinnen und Schüler in integrativen Klassen in verschiedenen Gemeinden und Kantonen betreuen, mit Anträgen: Sie schätzen die Kosten für die Lehrkräfte und die technischen Anforderungen für die Übertragung in Braille. Dabei gehen die Schulen und auch andere Anbieter unterschiedlich vor: Der Sonnenberg Baar überträgt oftmals auch nur einzelne Kapitel eines Buches, das gerade im Unterricht in den Einsatz kommt, während die SBS auf die Gesamtübertragung des entsprechenden Buches setzt. Dazu kommt die Vielfalt der Zuständigkeiten je nach Wohnort des Schülers oder der Schülerin. Wigger: „Bis heute ist nicht ganz klar, wer in welchem Fall der Ansprechpartner ist: Kanton, Schulgemeinde oder IV-Stelle?“ Häufig können die Sonderschulen nicht abwarten, bis eine Kostenübernahmegarantie vorliegt – und sie übertragen auf eigenes Risiko. „Schliesslich wären die Schüler und Schülerinnen die Leidtragenden, wenn sie nicht rechtzeitig ihre Unterlagen erhalten und deshalb dem Unterricht nicht folgen können.“
Zur engen Zusammenarbeit aufgefordert
Trotzdem sieht Wigger auch Vorteile in der heutigen Situation: „Der Rückzug des BSV aus der Finanzierung der Lehrmittelübertragung stellt uns alle – Schulbehörden, Sonderschulen und Bibliotheken – vor Herausforderungen. Wir müssen uns vernetzen und sehr gut absprechen.“ Einmal geht es um Prozessoptimierungen: Ziel ist, die Antragsstellung samt Finanzierung zu vereinheitlichen und zu vereinfachen. Ausserdem soll möglichst rasch eine Datenbank erstellt werden, welche bereits übertragende Lehrmittel kennzeichnet sowie die Organisation nennt, wo sie allenfalls zur Ausleihe oder zum Kauf bereit stehen. Aktuell arbeitet die Interkantonale Lehrmittelzentrale ILZ mit einer Gruppe von Fachpersonen daran, diese Fragen zu klären. „Schliesslich sind grosse Kosten mit der Lehrmittelübertragung verbunden“, so Wigger. Und dann sind noch technische Absprachen vonnöten: Heute verwenden die Anbieter unterschiedliche Programme bei der Braille-Übertragung und interpretieren die Unterlagen auch verschieden, zum Beispiel, wie Leerstellen gekennzeichnet werden sollen, in welche die Schüler ihre Antworten schreiben.
Der Idealfall würde – beurteilt nach Kosten und Nutzen – eine Standardisierung darstellen. Wenn pro Jahrgang nur noch zwei oder drei Mathematikbücher im Einsatz wären, könnte es schnell verfügbare Braille-Lehrmittel dazu geben. Doch dieser Zustand liegt nicht unbedingt im Interesse der Schulbuchverlage und der Lehrpersonen, die Aktualisierungen und Verbesserungen der Lehrmittel wünschen. Laut Wigger können auch die Verlage einen Teil beitragen, um die Situation zu vereinfachen: „Wenn die Verlage ihre Veröffentlichungen konsequent barrierefrei gestalten, auch als PDFs, dann wird die Übertragung einfacher und schneller.“ Mit der zunehmenden Bedeutung von E-Text werde der Druck auf die Verlage, barrierefreie Texte anzubieten, nochmals grösser, auch im Sinne des Behindertengleichstellungsgesetzes. Denn schliesslich haben auch sehbehinderte und blinde Kinder das Recht, unter verschiedenen Medien in Bibliotheken auszuwählen.