Chancen für ein gutes Leben mit Sehbehinderung
Studie COVIAGE: wie im Alter eine Sehbehinderung bewältigt werden kann.
Wie bewältigen Menschen, die erst im Alter eine Sehbehinderung erleben, dieses einschneidende Erlebnis? Hierzu veröffentlichten der Schweizerische Zentralverein für das Blindenwesen (SZBLIND) und die Universität Zürich im Februar die gross angelegte Studie COVIAGE (Coping with Visual Impairment in Old Age), die aufzeigt, wie den Belastungen der Sehbehinderung (neue) Ressourcen entgegen gesetzt werden können. Jeannette Betschart (85) und Louis Bachmann (75), zwei Teilnehmer an der Vor-Studie zu COVIAGE erzählen im Gespräch mit tactuel, wie sie persönlich ihre Lebensqualität trotz Sehbehinderung im Alter aufrechterhalten. Ihre Beispiele zeigen viele Parallelen zu den Studienergebnissen auf.
Mit der Nachricht, dass sie in absehbarer Zeit schwer sehbehindert oder gar blind sein werden, sahen sich Louis Bachmann (75) und Jeannette Betschart (85) jeweils im Alter von 60 bzw. 68 Jahren konfrontiert.
Diagnose – und was dann?
Jeannette Betschart berichtet: „Weil ich nicht mehr so gut sah wie früher, ging ich zur Augenärztin und bekam die Diagnose trockene AMD – ohne weitere Erklärungen. Ich hatte keine Ahnung was das heisst. Gott sei Dank habe ich kurze Zeit später einen Flyer in der Apotheke entdeckt, auf dem zu einem Infoabend über Makuladegenration am Unispital in Zürich eingeladen wurde.“
Wie Jeannette Betschart geht es gemäss den Ergebnissen der Studie COVIAGE vielen Betroffenen. Die Diagnose des Arztes ist ein Fakt, den man entgegen nimmt. Ein effektives Verständnis für die Folgen der Krankheit und eine Information über Beratungsangebote und weiterführende Informationsstellen wird vom Augenarzt leider in vielen Fällen nicht vermittelt. Häufig seien die Patienten aber auch nicht in der Lage die Informationen des Arztes im Moment der Diagnose aufzunehmen, kommentiert Augenärztin Dr. Sabine Delachaux die Aussagen der Studienteilnehmer.
Ein Glaukom und ein grauer Star führten bei Louis Bachmann dazu, dass er immer schlechter sah. „Für mich gab es nie den Moment der Schockdiagnose. Es wurde einfach immer schrittweise etwas schlechter und ich musste mich dann immer der Situation anpassen. Ich kann es nicht ändern, also hadere ich nicht mit dem Schicksal sondern versuche das Beste daraus zu machen“, sagt Bachmann im Interview. Eine ähnliche Einstellung zu ihrer Krankheit hat heute Jeannette Betschart: „Ich bin ein positiv denkender Mensch und nehme die Dinge wie es kommt und versuche einfach das Beste daraus zu machen“.
Sowohl Jeannette Betschart als auch Louis Bachmann haben die Herausforderung der Sehbehinderung also angenommen. Sie verfügen damit über eine wichtige Ressource, die in der COVIAGE Studie als „proaktiver Umgang“ bezeichnet wird (COVIAGE, S. 22). So sind Menschen, die ihre Sehbehinderung annehmen, häufig in der Lage, lieb gewonnene Tätigkeiten im Hinblick auf die Möglichkeiten, die ihnen mit der Sehbehinderung bleiben, zu selektionieren, zu kompensieren oder zu optimieren.
Lieb gewonnenes erhalten oder kompensieren.
Louis Bachmann zum Beispiel, machte kurzerhand sein Hobby zum Beruf, als die Arbeit in seinem angestammten Beruf unmöglich wurde: der ehemals passionierte Rennvelofahrer half einem Freund beim Aufbau seines Velogeschäftes. „So konnte ich meine Erfahrung vom Velofahren einbringen und mit meinem Sinn fürs Geschäftliche meinem Freund unter die Arme greifen“.
Louis Bachmann konzentriert sich heute auf das machbare, ohne dem, was nicht mehr geht, allzu sehr nachzutrauern: „Bis 65 Jahren bin ich noch regelmässig Rennvelo gefahren, dann wurde es zu gefährlich. Heute mache ich Spinning um mich fit zu halten“.
Angehörige einbeziehen
Für Jeannette Betschart war das kompensieren ihres Hobbys und Berufs – das Nähen und Sticken – nicht möglich. Doch dass sie nach wie vor den Haushalt mit etwas Unterstützung alleine machen kann, darauf ist die 85-Jährige stolz. „Mein Mann ist mit mir zusammen einkaufen gegangen, denn ich sehe ja nicht mehr was ich kaufe. Und er hat beim Kochen das Zwiebeln hacken übernommen“. Der Erhalt von Alltagskompetenzen spielt gemäss den Studienergebnissen denn auch eine zentrale Rolle für die Beurteilung einer hohen Lebensqualität.
Dass die Angehörigen wissen, wie die Alltagsbewältigung durch die Sehbehinderung eingeschränkt ist, und verstehen was als Unterstützung möglich ist, wird von COVIAGE als weitere Empfehlung festgehalten. So erzählt Louis Bachmann: „Mein Freundes- und Kollegenkreis weiss, dass ich sehbehindert bin. Mit meinen Freunden habe ich immer noch genauso viel Kontakt wie früher. Ich gehe an den Stamm, ich gehe ins Theater und ins Konzert. Einzig ins Kino gehe ich nicht mehr“. Für Ausflüge in die Stadt seien seine Frau und Kollegen wichtige Stützen. Denn: „einen weissen Stock habe ich zwar, aber den habe ich noch nie in Betrieb genommen. Dafür bin ich zu stolz. Für mich ist jedes Hilfsmittel ein Rückschritt. Ich versuche, so lange wie möglich ohne sie auszukommen“, sagt Bachmann.
Hilfsmittel einsetzen
Den Umgang mit Hilfsmitteln und auch den Austausch mit anderen Betroffenen bewertet Jeannette Betschart anders. Für Sie ist der Daisy-Player unverzichtbar und den weissen Signalstock hat sie immer dabei. Auch die Kontakte zu Retina Schweiz und zur Züricher Sehhilfe sind ihr sehr wichtig: „Bei der Sehhilfe haben wir immer einen Kaffee-Hock und schnorren viel miteinander“, schmunzelt sie.
Fragiles Gleichgewicht
Wie fragil jedoch die Balance von Belastungen und Ressourcen sein kann, musste Jeannette Betschart kurz vor Weihnachten selber erleben. Ihr Mann (92) stürzte und musste ins Spital. Sie musste feststellen, dass sie ohne ihn doch nicht mehr alleine zurechtkommt. Nach einer Woche alleine zu Hause schlug eine Freundin vor, dass sie und ihr Mann temporär ins Wohnheim der Stiftung Mühlehalde gehen. Dort findet auch unser Gespräch statt. „Das war für mich ein echter Rückschlag“, sagt Jeannette Betschart. Doch jetzt denkt sie schon wieder positiv: „Mein Ziel ist, dass wir wieder selbständig zu Hause leben können. Die Leute hier sind sehr freundlich und kümmern sich gut um uns, aber es ist halt ein Heim und nicht unser Zuhause“. Dass sie jetzt mehr Hilfe benötigt, ist ihr bewusst.
Jeannette Betschart muss eine neue Balance finden und andere Ressourcen. Das weitere soziale Umfeld muss eingespannt werden: Freunde und Nachbarn, die Spitex oder eine psychosoziale ambulante Beratung. Und auch die physische Umwelt muss neu beurteilt werden: „Ich muss jetzt erstmal herausfinden, ob unsere Wohnung Rollator-gängig ist“, erzählt sie der ebenfalls blinden Kollegin am Telefon. Es ist Jeannette Betschart zu wünschen, dass sie mit ihrer positiven Lebenseinstellung und entsprechender Hilfe die Rückkehr ins Eigenheim meistert.