Blind geschminkt
Zufriedenheit, Power und Selbstvertrauen sind wichtige Vorrausetzun gen, um sich schön zu fühlen. Dazu gehört für Tina Sohrab auch ein gepflegtes Äusseres. Auf Instagram und Youtube gibt die Beauty-Bloggerin aus Hannover anderen Frauen mit Sehbeeinträchtigung Schmink- und Beauty-Tipps.
von Michel Bossart
Bei ihrer Geburt wurde bei Tina Sohrab die Netzhauterkrankung Retinitis pigmentosa diagnostiziert. Mit 15 erblindete die Hannoveranerin daran. Sie erinnert sich: «Ich wollte nachts aufstehen, um mir etwas zu trinken zu holen. Als ich das Licht im Flur anmachte und es dunkel blieb, bin ich noch nicht auf die Idee gekommen, dass mit mir etwas nicht stimmen könnte.» Als sie dann ihre Schwester geweckte hatte und diese genervt meinte: «Was hast du eigentlich, das Licht ist doch an!», verfiel Tina Sohrab in eine Art Schockzustand. Die nächste Erinnerung, die sie an diese Nacht hat, kommt aus der Notaufnahme des Krankenhauses.
«Diese Zeit war für mich und meine Familie der absolute Horror», sagt sie und fügt an: «Doch nach einem langen und vor allem harten Kampf ist es mir gelungen, neuen Lebensmut zu gewinnen und mein Leben neu zu gestalten.»
Heute ist Tina Sohrab 30 Jahre alt, verheiratet und hat einen sechsjährigen Sohn. Und sie ist Beauty-Bloggerin und Influencerin. Auf Instagram folgen ihrem Profil mit Schmink-Tutorials knapp 12’000 Menschen, auf Youtube haben über 730 Menschen ihren Kanal abonniert. Doch wie kommt eine blinde Frau dazu, so viel Wert auf Make-up zu legen? Tina Sohrab sagt dazu: «Schminken gibt mir ein weibliches Gefühl. Attraktivität spielt für mich eine wichtige Rolle und mein Auftritt ist viel selbstbewusster, wenn ich weiss, dass ich ein gepflegtes Äusseres habe.»
Als Teenager interessierte sich Tina Sohrab bereits vor ihrer Erblindung für Make-up («das war so ein Mädchending») und hatte gemeinsam mit Freundinnen schon erste Schminkversuche gestartet. Sie erzählt: «Selbstverständlich wollte ich auch nach der Erblindung nicht darauf verzichten und begann, mir das Blindschminken selbst beizubringen. Mit dem Feedback meiner Freundinnen ist es mir gelungen, Fortschritte zu machen und immer besser zu werden. Natürlich war es gerade am Anfang alles andere als einfach, aber aufgeben war für mich keine Option.» Heute sei sie beim Auftragen des Make-ups so sicher, dass sie keinen Kontrollblick einer sehenden Person mehr brauche. Einzig wenn sie eine neue Kooperation eingehe und die Produkte beziehungsweise deren Intensität noch nicht kenne, sei sie auf die Rückmeldung «ihrer Mädels» angewiesen. Aber: «Wenn es einmal sitzt, dann muss niemand mehr nachschauen!»
Ihr eigenes Unternehmen
Mit gesteigerter Selbstsicherheit und den positiven Rückmeldungen aus ihrem Umfeld fasste sie den Entschluss, ihre Erfahrungen an blinde und sehbeeinträchtigte Frauen weiterzugeben. Mit der Unterstützung einer Make-up-Artistin machte sie sich 2016 an die professionelle Umsetzung des Projekts «Blind and Beautiful» und produzierte ihre ersten blindengerechten Make-up-Tutorials.
«Ich wusste nicht, welche Reaktionen ich auf meine Tutorials zu erwarten hatte und war dementsprechend nervös», sagt sie. Zu Unrecht: Zwar meinten anfangs ein paar vereinzelte Stimmen, dass jetzt nicht auch noch eine Blinde ein so oberflächliches Thema wie Beauty und Make-up beackern sollte, erzählt sie. Doch die grosse Mehrheit der Rückmeldungen waren durchwegs positiv. Dieser Zuspruch motivierte sie, mehr aus dem Projekt zu machen. Heute ist «Blind and Beautiful» ein Unternehmen, mit dem Tina Sohrab Geld verdient und das blinden und sehbeeinträchtigen Frauen Mut machen und sie dazu anregen soll, ihre Schönheit nicht zu verstecken. «Warum sollte sich eine blinde Frau nicht schminken, nur weil sie sich selbst nicht sehen kann?», fragt Tina Sohrab rhetorisch. Sie ist überzeugt: Jede Frau hat das Recht, sich schön zu fühlen, unabhängig von einer Beeinträchtigung. Denn Schönheit ist mehr als nur das blosse Aussehen. «Für mich ist Schönheit», fährt sie fort, «ein Gefühl, das man nach aussen hin ausstrahlt. Zufriedenheit, Power und Selbstvertrauen sind wichtige Vorrausetzungen, um sich schön zu fühlen.» Selbstverständlich akzeptiere sie es auch, wenn eine Frau sich nicht schminken wolle. Doch das eigene Äussere sollte auf jeden Fall gepflegt sein und darauf geachtet werden, dass zum Beispiel die Haare nicht fettig sind, findet sie. Darf man eine sehbeeinträchtigte Person auf ihr äusseres Erscheinungsbild ansprechen? Tina Sohrab entgegnet ohne Zögern: «Auf jeden Fall! Überall spricht man heute von Inklusion und Diversität aber gerade bei Menschen mit einer Beeinträchtigung gibt es diese Hemmschwelle, Dinge offen anzusprechen. Das muss nicht sein.»
Tina Sohrab war es immer sehr wichtig, ihr Leben so normal wie möglich zu führen und sagt: «Früher war ich ein ganz normaler Teenager und heute eine absolut normale Frau.» Sie ist sich aber auch bewusst, dass Make-up allein für ein gesteigertes Selbstbewusstsein nicht ausreicht. Aber: «Beauty ist ein Teil davon. Beauty hat mein Durchhaltevermögen und meine positive Einstellung zum Leben gestärkt!»