Blind geformt
Was heisst Formschönheit, wenn man nichts sieht?
Im Gespräch mit Geburtsblinden entwickelte Alena Halmes Cocktailgläser und entdeckte eine neue Entwurfsmethode. Protokoll einer verblüffenden Bachelor-Arbeit.
Text: Claudia Schmid, Fotos: Alena Halmes, Raphaëlle Wettstein
Ein Besuch im Basler Restaurant Blinde Kuh führte Alena Halmes in eine Welt, der sie ihre Bachelorarbeit ‹Augen zu› widmen sollte. Wie alle sehenden Gäste, die dort in völliger Dunkelheit essen, wurde sie dazu gezwungen, den Raum und die Haptik der Gegenstände am Tisch anders und intensiver wahrzunehmen. «An diesem Abend fragte ich mich, was oder welche Form als schön wahrgenommen wird, wenn man nichts sieht», erinnert sich die Designerin. Deshalb sollten Monate später Blinde der Schlüssel für ihre Abschlussarbeit am Institut Industrial Design der HGK Basel sein. Sie halfen ihr, die Frage nach dem ästhetischen Empfinden jenseits des Sehens zu beantworten. Bei der Gestaltung ihrer Cocktailglas-Kollektion standen denn auch sowohl die Haptik als auch die Akustik im Zentrum.
Anders wahrnehmen
Unbekümmert tauchte Alena Halmes in den Alltag sehbehinderter und blinder Menschen ein. Sie erfuhr, dass ehemals Sehende die Farben vergessen können, wenn sie sich nicht regelmässig daran erinnern, oder dass es ihnen hilft, wenn sie in einem Raum schnalzen, um sich besser orientieren zu können. Die wichtigsten Gespräche kursierten um das Thema Schönheit. Eine Schüssel, die angenehm klingt, wenn man sie berührt, und die aus einem hochwertigen Material besteht, schätzen Blinde besonders.
Nach Experimentierphasen mit Klang und Materialien sowie einem ‹blinden Essen› mit fünf Freundinnen, die in Alena Halmes’ Küche mit verbundenen Augen und verschiedenen Gegenständen kochen und essen mussten, entschied sie sich für Gläser als Thema. Sie sind gut greifbar, haben eine schöne Akustik und sind, weil man damit anstossen kann, Teil einer Interaktion und eines Brauchs.
Sie studierte Geschichte und Form von Weingläsern, deformierte sie und untersuchte, wie sich dabei ihr Ton verändert. Dabei entschloss sie, die Haptik und den Sound der Gläser voneinander zu trennen. «Mein Ziel war es, die Form eines Glases in ein Geräusch zu übersetzen», erklärt Halmes. Es galt also, eine neue Formenlehre aufzubauen und Regeln zu formulieren, um Geräusche zu visualisieren. In dieser Phase wurde das freie Zeichnen und Skizzieren elementar. Alena Halmes begann, Weingläser zu zeichnen, die Geräusche repräsentieren. Unter der Prämisse, dass Blinde Gegenstände von unten nach oben berühren, weil sie nicht in der Luft herumfischen wollen, skizzierte sie auch die Klänge und Töne von unten nach oben.
Welche Form hat das Wasser?
Blättert man durch Alena Halmes’ Skizzenbuch, entdeckt man Hunderte von Gläsern; verzerrt, schräg, gerillt. Das Glas, das für den Ton eines Sängers steht, hat gerippte Ränder; ganz nach rechts schwingt ein Glas, das an eine Säule erinnert – so stellt sich die Designerin den Klang eines Motors vor. Je länger sie zeichnete, desto wilder wurden die Kritzeleien. «Das war sehr befreiend. Ich konnte mich von gängigen Formen lösen, die auf dem Sehen basieren.»
Halmes erkannte, dass sie die Übersetzung von Geräuschen in Glasformen geburtsblinden Menschen überlassen wollte. Die wichtigste Frage lautete ab sofort: Wie stellen sie sich Wassergeräusche vor? Wie können sie etwas imaginieren, das so schwer fassbar ist und sich der Haptik entzieht? Zwei geburtsblinde Frauen, die die Gestalterin zum Interview traf, halfen ihr dabei. Das Geräusch des Blubberns etwa beschrieb die eine Person so: «Luftblasen auf dem Wasser, verschieden gross, die Blasen kommen von unten nach oben. Sie sind weich und rund.» Oder das Zischen: «Wasser liegt flach in der Querform, es sind lang gezogene Streifen, die sich sammeln und in Dampf auflösen.»
Die Wasserbewegungen – darunter auch ein Strudel, ein Abfluss und ein Wasserhahn – setzte Halmes in einer ersten Entwurfsrunde in Kartonmodelle um. Das ‹Blubber-Glas› etwa ist ein hohes Gefäss mit einem Fundament aus Bläschen. Den Strudel setzte sie in ein gerilltes Cocktailglas um, das sich wie der schiefe Turm von Pisa nach rechts biegt. Interessant auch, wie sich eine blinde Frau den Wasserhahn vorstellte: «Das Wasser hat einen Aufsatz. Dieser lässt das Wasser in einem Spitz zusammenlaufen. Unten sammelt es sich im See.»
Sehen, hören und fühlen
Aus den Beschreibungen destillierte Alena Halmes die markantesten Merkmale. Diese nutzte sie für die finale Cocktailglas-Kollektion und brachte sie in Form – darunter auch den See. Er hat die Form einer flachen Glasschale mit doppeltem Rand. Begleitet wird die Schale von einem Röhrchen mit Kugeln. Diese repräsentieren die Wassertropfen, die aus Wasserfall in den See fallen.
Das Glas, das das Geräusch von blubberndem Wasser repräsentiert, ist als Schale übersetzt, die mit nach innen versetzten Blasen bestückt ist. Die Form folgt der Beschreibung des Geräuschs: Es bestehe aus «vielen kleinen Blasen, die zusammen hochgehen». Dank den Einbuchtungen der Blasen lässt sich dieses Objekt besonders gut greifen. Dazu gehört ein Glasdeckel mit einem Rohr. Mit diesem Glas, so Halmes, könnten zum Beispiel Cocktails mit Raucheffekt serviert werden. Hebt man die Cloche, entsteht zudem ein Klang.
Ohne den Glasbläser Wilfried Markus, der im deutschen Rheinfelden eine Werkstatt betreibt, hätte Alena Halmes die kühnen Formen nicht anfertigen können – er half ihr bei der konkreten Umsetzung. Dank ausgefeilten technischen 1:1-Plänen, Zeichnungen sowie Erklärungen produzierte er fünf Gläser, die die Wassergeräusche übersetzen. Endlich sei nach dieser langen, theoretischen Phase klassisches Handwerk zum Tragen gekommen, auch wenn sie selbst nicht Hand anlegen konnte, sagt die Designerin. «Ich war fasziniert, wie schnell und intuitiv der Blasprozess erfolgte, und war gefordert, Wilfried Markus in kurzer Zeit Arbeitsschritte durchzugeben.» So dauerte es kaum eine halbe Stunde, bis ein Glas fertig war.
Ihr Projekt ‹Augen zu› hat Alena Halmes sensibilisiert. Sie liess sich darauf ein, in die innere Welt geburtsblinder Menschen einzutauchen. So hat sie eine Methode entwickelt, wie sie neue Formen finden kann – befreit vom alles beherrschenden visuellen Zugriff auf die Welt. Die Cocktailgläser, die für alle zugänglich sind, sollen nicht Konzept bleiben. Halmes, die in der Gastronomie jobbt, würde sie gerne unter die Leute bringen. Sie weiss schon, welcher Drink in welches Gefäss kommt. Ins ‹Zisch-Glas›, das aus einem Rotationskörper mit drei ‹Zischbeinchen› besteht, passt ein Negroni: Die Beinchen je mit Gin, Wermut und Campari gefüllt, im Glas liegt eine Orange.
Der Artikel «Blind geformt» erschien erstmals in der Zeitschrift «Hochparterre». Wir danken dem Verlag und der Autorin herzlich, dass wir diesen nochmals abdrucken dürfen.