Blind auf der Flucht
Was die gegenwärtige Situation für Menschen mit Behinderung bedeutet
Von Christiane Link
Es ist an der Essensausgabe als ich Mohammed Bennani (Name geändert) das erste Mal sehe. Mohammed ist blind. Der junge Mann tastet sich an einem Gitter entlang, um bis zu der Stelle zu kommen, wo ich ihm einen Teller mit Reis und Sosse gebe. Die anderen Flüchtlinge drücken von hinten. Die meisten nehmen keine Rücksicht auf ihn.
Ich bin überrascht, einen blinden Mann in einer Unterkunft wie dem Ferry-Dusika-Stadion in Wien zu sehen. Kaum ein Platz wäre ungeeigneter: Hunderte Männer liegen auf dem kalten Boden der Eingangshalle auf Isomatten. Überall verstreut sind Matten, Decken, Schuhe, Ladekabel. Kein Ort, an dem man mit einem Blindenlangstock den Weg finden könnte. Zwischendrin stehen Bierbänke. Es gibt kaum freie Flächen im Eingangsbereich des Radstadions. Die Halle mit der Radrennbahn selbst wird nicht genutzt. Zu den Tribünen führen freistehende Treppen. Ideal, um sich als blinder Mensch böse den Kopf zu stossen. „Ich hatte dort ein paar Unfälle“, wird mir Mohammed ein paar Tage später sagen.
Als mir Mohammed das zweite Mal auffällt, fülle ich gerade Reis auf Plastikteller. An diesem Tag hat ein anderer Helfer Mohammed zuerst in die Schlange gelassen. Ich fasse den Entschluss, ihn später zu suchen, um ihn zu fragen, wie er überhaupt im Dusika-Stadion zurechtkommt.
„Ich habe Angst hier“
Ich finde Mohammed in dem Chaos des Stadions erst einmal nicht und frage einen der Sicherheitsleute. Als wir ihn treffen, stelle ich mich kurz vor und frage ihn, ob er zurechtkommt. Kommt er nicht. Das ist nach zwei Sekunden klar. „Ich habe Angst hier“, ist das Erste, was er zu mir sagt. „Ich fühle mich hier nicht mehr sicher.“ Andere hätten ihm alles abgenommen: Sein Geld, sein Handyladegerät und auch auf das Essen muss er aufpassen, sonst klauen sie ihm auch das.
„Ich kann hier niemandem vertrauen“, sagt er. Erst dann wird mir klar, dass Mohammed alleine unterwegs ist. Er spricht fliessend Englisch, kommt aus Marokko und ist vollblind. Später wird er mir erzählen, dass die Polizei in seinem Heimatland mit aller Härte gegen blinde Menschen vorgeht, wenn diese für ihr Recht auf Gleichberechtigung protestieren. Nicht einmal ein Bankkonto habe er in Marokko eröffnen dürfen. Immer wieder seien er und seine blinden Freunde auf die Strasse gegangen, um für ihre Rechte einzutreten. Immer wieder wurde er von der Polizei drangsaliert und mit Stöcken geschlagen, erzählt er mir. Im September hatte er genug Geld zusammen, um das Land zu verlassen.
Ich schlafe eine Nacht darüber, schliesslich fahre ich ins Dusika-Stadion und hole Mohammed einfach ab. Das Sofa meines Wohnzimmers halte ich für eine bessere Alternative als einen blinden, allein reisenden Mann in solchen Umständen zu lassen. Ein paar Tage später schaue ich mir seine Papiere an und stelle mit Erstaunen fest, dass auf keinem einzigen Dokument vermerkt ist, dass er ein blinder Flüchtling ist.
Ausgenutzt und ausgeraubt
Ich frage, wie es Mohammed alleine überhaupt bis nach Europa geschafft hat. Ein syrischer Flüchtling hat ihm in Griechenland seine Hilfe angeboten, nachdem er zuvor von anderen unterstützt wurde, erzählt er. Er nahm die Hilfe dankbar an. Zwar half ihm der Mann tatsächlich bis nach Österreich zu kommen, aber er fing unterwegs an, Mohammed Geld abzunehmen und seine Familie und Freunde zu Hause zu erpressen.
Er fing an, Mohammed zu quälen, liess ihn tagelang nicht zur Toilette. Und als die beiden endlich in Österreich ankamen, wollte die Polizei sie prompt trennen. Nicht weil sie den Missbrauch durchschaute, sondern weil es niemanden interessierte, dass Mohammed alleine nicht von A nach B kommt. Die beiden setzten sich darüber hinweg und landeten irgendwann im Dusika-Stadion in Wien.
Keine Erfassung
Das Hauptproblem ist, dass eine Behinderung von Flüchtlingen, die in Europa ankommen, erst einmal gar nicht erfasst wird. Das ist auch in der Schweiz so. Man fragt zwar vieles ab, bevor die Flüchtlinge in Unterkünfte verteilt werden, aber eine etwaige Behinderung ist nicht dabei. Dabei sind nach Schätzungen rund 15 bis 20 Prozent der Flüchtlinge behindert. Genaue Zahlen liegen aber auch für die Schweiz nicht vor. „Behinderungen von Asylsuchenden werden im Zentralen Migrationsinformationssystem ZEMIS nicht erfasst. Wir verfügen deshalb nicht über statistisch auswertbare Daten“, sagt der stellvertretende Leiter Information und Kommunikation beim Staatssekretariat für Migration SEM, Martin Reichlin.
Dabei sind aufnehmende Länder verpflichtet, auf die Bedürfnisse von besonders schutzbedürftigen Flüchtlingen einzugehen. Bei behinderten Flüchtlingen ist das nicht zuletzt eine angemessene Unterbringung. Der Fall von Mohammed zeigt, was geschieht, wenn darauf nicht geachtet wird.
Immerhin die meisten Empfangs- und Verfahrenszentren (EVZ) in der Schweiz sind nach Auskunft des SEM bedingt rollstuhlgängig. Für die Dauer des Aufenthaltes – aktuell rund 20 Tage – sei eine Unterbringung möglich, so der Sprecher des SEM Martin Reichlin. „Bei der Zuweisung an einen Kanton wird dieser vorgängig über die besonderen Bedürfnisse informiert. In speziellen Fällen wird auf die Unterbringungsmöglichkeiten im Kanton Rücksicht genommen“, so Reichlin. Ausserdem seien die mit der Betreuung beauftragten Dienstleistungserbringer gehalten, besondere Bedürfnisse bei der Betreuung zu berücksichtigen.
Einer dieser Dienstleistungserbringer ist die ORS Service AG. Deren Mediensprecher Roman Della Rossa sagt, dies werde auch in der Praxis so umgesetzt: „Die Bedürfnisse jedes einzelnen Flüchtlings mit einer Behinderung werden beim Eintritt in die Asylunterkunft separat geklärt, aufgenommen und beurteilt. Je nach Pflegebedürftigkeit arbeiten wir dann mit aussenstehenden Stellen zusammen.“ Darunter seien auch Blindenvereine. Derzeit betreut die ORS Service AG fünf Flüchtlinge mit einer Behinderung. „Wobei sich immer auch die Frage des Behinderungsgrades stellt“, sagt Della Rossa.
Das Erfassen allein ist natürlich noch keine Lösung, anschliessend müssten Massnahmen greifen. „Ein Teil der Asylunterkünfte, der wir im Auftrag der Behörden führen, ist barrierefrei, damit auch Menschen mit einer körperlichen Behinderung untergebracht und betreut werden können. Diese Unterkünfte sind rollstuhlgängig und verfügen über behindertengerechte Toiletten und Duschen. Geeigneten Wohnraum zu finden, sobald Menschen mit einer Behinderung in eine Gemeinde transferiert werden, ist schwierig. Es gibt nur sehr wenige Wohnungen, die barrierefrei sind und genügend grosse Badezimmer für einen Rollstuhl haben“, so der ORS-Sprecher.
Und auch in den Kantonen gibt es nach Auskunft der SEM unterdessen erste Erfahrungen mit behinderten Flüchtlingen. In einem Kanton wird die Familie eines querschnittgelähmten Flüchtlingskindes durch Freiwillige und ein Behindertentaxi zusätzlich im Alltag unterstützt. In einem anderen Kanton besucht eine sehbehinderte Familie einen speziellen Sprachkurs und wird zusätzlich durch einen lokalen Sehbehindertenverein unterstützt.
Brennglas
Die Flüchtlingssituation wirkt zurzeit wie ein Brennglas, was die Lage behinderter Menschen in Europa angeht. Nun kommen viele behinderte Menschen auf einmal an und es wird deutlich sichtbar, wo Barrierefreiheit fehlt oder einfach die Barrieren in den Köpfen die Inklusion verhindern. Das ist sicherlich ein Problem, das gelöst werden muss, aber auch eine grosse Chance, Barrierefreiheit und Inklusion voranzutreiben.
Mohammed ist nach fast zwei Wochen von meinem Sofa in eine Einrichtung der Diakonie für Flüchtlinge gezogen, wo er sicher leben kann und keine Angst haben muss. Es ist eine der wenigen Einrichtungen in Österreich, die sich auf die Unterstützung behinderter Flüchtlinge spezialisiert haben. Er besucht bereits einen Deutschkurs und fährt schon alleine U-Bahn.