Bindeglied zwischen der gehörlosen und der blinden Welt
Beat Marchetti hat das Usher-Syndrom (Typ 1). Er ist 52 Jahre alt, Vater dreier Kinder und wohnt mit seiner Familie in Stäfa am Zürichsee. Seine Taubheit und seine Sehbehinderung hielten ihn nicht davon ab, eine viermonatige Weltreise mit dem Schiff zu machen oder sich aktiv in den sozialen Medien zu betätigen. Das Interview wurde mit Unterstützung einer Dolmetscherin für taktile Gebärdensprache geführt.
Das Interview führte Michel Bossart
tactuel: Beat, du kamst bereits gehörlos auf die Welt, wann wurde bei dir das Usher-Syndrom diagnostiziert?
Beat Marchetti: Relativ spät, erst mit 22 Jahren. Ich war beim Augenarzt und habe diesen Begriff damals zum ersten Mal gehört. Ich wusste aber schon immer, dass ich anders war: Neben meiner Taubheit war ich schon als Kind nachtblind und hatte ein eingeschränktes Sichtfeld.
Wie hast du damals auf diese Diagnose reagiert?
Die Diagnose war eher eine Bestätigung und schuf Klarheit. Ich hatte danach keine Krise – aber ich begann, mich dann auch in der Blinden- beziehungsweise der Taubblindenwelt zu engagieren. Zuvor war ich schon in der Gehörlosenwelt aktiv.
Kannst du mir etwas zu deiner Kindheit, beziehungsweise deiner Schul- und Ausbildungszeit sagen? Inwiefern unterschieden sich diese von hörenden und sehenden Kindern und Jugendlichen?
Ich habe noch eine Schwester und einen Bruder. Mein Bruder ist sehend und hörend und meine Schwester hat ebenfalls das Usher-Syndrom. Ich war also nicht der einzige in der Familie. Ich habe eine Schule für Gehörlose besucht. Klar, wenn ich beim Fussball den Ball nicht mehr gesehen habe, haben die anderen gespöttelt oder ich wurde ausgelacht, als ich beim Velofahren Probleme mit dem Gleichgewicht hatte. Da ich aber schon immer stark und sportlich war, wurde ich akzeptiert, so wie ich war. Weil ich nachtblind bin, war ich in der Pfadi der Einzige, der eine Taschenlampe hatte. Das fand ich zum Beispiel cool. Alles in allem hatte ich eine wirklich tolle Jugendzeit.
Das Usher-Syndrom ist eine Erbkrankheit. Viele Betroffene wehren sich aber gegen diese Bezeichnung, weil sie sich nicht krank fühlen. Was ist deine Meinung zu diesem Thema?
Ich war ja nach der Diagnose der gleiche Mensch wie vorher. Ich fühlte mich deswegen nicht plötzlich krank. Handkehrum gibt es wahrscheinlich schon Menschen, die nach so einer Diagnose in ein Loch fallen und tatsächlich krank werden.
Wie sieht bei dir ein typischer Tagesablauf aus und welche Hilfsmittel brauchst du, um den Alltag zu meistern?
Meinen weissen Stock brauche ich zur Orientierung und damit die Leute auf die Seite gehen (lacht). Das zweitwichtigste Hilfsmittel ist mein iPad. Das brauche ich für die Kommunikation. Das ist mein Zugang zur Welt. Mit ihm schreibe ich Emails und pflege den Kontakt zu meinen Freunden. Die Mobilität allerdings ist schwierig. Ich bin auf Assistenzpersonen angewiesen, damit ich an Orte gehen kann, die ich nicht kenne. Dank ihnen bin ich in der Gesellschaft inkludiert und kann mit Menschen kommunizieren, die die Gebärdensprache nicht verstehen können. Die Braille-Zeile am Computer brauche ich allerdings selten. Ich bin kein Freund von Braille und versuche, das so lange wie noch möglich zu vermeiden.
Wie gut siehst du denn noch?
Wart, ich zeig’s dir auf dem Handy. (Er nimmt sein Mobiltelefon hervor und zeigt den Nachrichteneingang, damit man die Schriftgrösse sehen kann.) Das iPhone ist nicht so praktisch wie das iPad. Der Bildschirm ist relativ klein. Zudem habe ich für das iPad eine externe Tastatur. Das ist einfacher, als wenn ich mit zwei Fingern auf dem Screen tippen muss. (Er versorgt das Mobiltelefon wieder in seiner Gesässtasche.) Ich habe mir angewöhnt, alles sofort und nach System zu versorgen, bevor ich weiterrede. Ansonsten riskiere ich, das iPhone zu verlegen und dann bin ich aufgeschmissen…
Wir sprechen jetzt mit der Unterstützung einer Dolmetscherin. Du «liest» meine Fragen, indem du ihre Hand hältst und ihre Gebärden so verstehst. Wie oft bist du auf eine solche Hilfe «aus Fleisch und Blut» angewiesen? Und welche Vor- oder Nachteile hat diese Form der Kommunikation im Vergleich zum schriftlichen Austausch?
Ich brauche für die direkte Kommunikation mit anderen Menschen grundsätzlich immer taktile Gebärdensprache. Der Kontakt zu Mitmenschen klappt nur durch Berührung. Lasse ich die Hand los, bin ich weg. Wenn ich unter Menschen gehe, brauche ich darum immer eine Assistenz. Den Computer oder das iPad nutze ich nur im Büro für die Kommunikation. Vor vier Jahren habe ich noch deutlich besser gesehen und konnte Gesichter erkennen. Ich konnte dann sehen, ob ich die Aufmerksamkeit des Gegenübers hatte und mit dem iPad kommunizieren, indem ich schrieb, was ich sagen wollte. Heute geht das leider nicht mehr und ich kommuniziere über den Dolmetscher in taktiler Gebärdensprache. Das ist letztendlich für alle viel einfacher.
Du arbeitest beim SZBLIND im «Kompetenzzentrum erworbene Hörsehbehinderung». Was sind da deine Aufgaben?
Ja, seit 25 Jahren arbeite ich für den SZBLIND. Aus gesundheitlichen Gründen allerdings zurzeit nur noch in einem 25-Prozent-Pensum. Ich bin immer sehr erschöpft. Es ist nicht klar, ob das einen Zusammenhang mit dem Usher-Syndrom hat. Als ich angefangen habe, empfahl man taubblinden Menschen noch, das Lorm-Alphabet zu benutzen. Ich war schockiert. Denn wir Gehörlosen haben mit der Gebärdensprache eine ganz andere Sprache! Andererseits gab es im Gehörlosenwesen keine Sensibilisierung auf das Usher-Syndrom, obwohl sechs Prozent aller Gehörlosen davon betroffen sind. In der Usher-Infostelle vom SZBLIND bin ich ein Bindeglied zwischen diesen zwei Welten: Ich halte Vorträge, wir schulen freiwillige Mitarbeitende und Kommunikationsassistenzen oder sensibilisieren Gebärdensprachendolmetscher darauf, kleinere Gebärden zu machen, damit sie auch von Personen mit eingeschränktem Gesichtsfeld gesehen werden können oder überhaupt die taktile Gebärdensprache zu benutzen.
Was ist genau das Problem, wenn die blinde und die gehörlose Welt als zwei getrennte Welten betrachtet werden?
Weil Personen, die vom Usher-Syndrom betroffen sind, klar in beide Welten gehören. Blinde Menschen funktionieren lautsprachlich, Gehörlose Menschen mit Gebärdensprache. Eine Hörsehbehinderung ist aber eine «eigenständige» Behinderungsform. Während Blinde sich für einen audiodeskriptiven Zugang stark machen, kämpfen Gehörlose für Untertitel. Bei Hörsehbehinderten kommt es auf den Grad der Behinderung an, ob man von der visuellen oder auditiven Sprache profi tieren kann. Jemand, der völlig taubblind ist, für den verschliessen sich beide Welten. Dann gibt es nur noch die taktile Gebärdensprache und die Braille-Schrift!
Hast du eigentlich schon mal mit deinem Schicksal gehadert?
Nein, bis jetzt noch nie. Ich habe mein Leben so akzeptiert, wie es ist. Vielleicht kommt das noch Anzeige bei einer vollständigen Erblindung, wer weiss. Worüber ich mich aber jetzt schon beklage, ist, dass die Welt für uns voller Barrieren ist.
Angenommen, du könntest einen der beiden Sinne wieder vollständig erlangen. Würdest du dich eher für das Hören oder für das Sehen entscheiden?
Das werde ich oft gefragt. Für mich ist die Frage ganz klar zu beantworten: Ich würde mich zu 100 Prozent für das Sehen entscheiden. Ich bin ja seit Geburt gehörlos. Ich weiss gar nicht, wie es ist, zu hören.