Ergebnisse der Studie zu Sehbeeinträchtigung und Paarbeziehung

Wie eine Sinnesbehinderung die Paarbeziehung beeinflusst und herausfordert, darüber wussten wir bis vor Kurzem praktisch nichts. Der SZBLIND hat diese Frage in einem dreijährigen wissenschaftlichen Projekt untersucht und stellt betroffenen Paaren, den Selbsthilfeorganisationen und Fachpersonen nun umfassende Informationsmaterialien zur Verfügung. Das dieser Ausgabe von tactuel beigelegte Heft «Beziehungen unter Druck» beinhaltet eine Zusammenfassung der Ergebnisse, Kommentare und Hintergrundinformationen dazu.

Von Stefan Spring, Verantwortlicher Forschung SZBLIND

Frau Peyer rüstet das Gemüse. Herr Peyer reicht ihr die Zutaten.
Im Haushalt ergibt sich häufig eine neue Aufgabenteilung. Die betroffene Person benötigt Hilfe bei Dingen, die sie zuvor selbständig erledigen konnte. / Bild: Daniel Winkler

Um mehr darüber zu erfahren, welche Auswirkungen es auf die Partnerschaft hat, wenn eine der beiden Personen eines Paares mit einer Sehbeeinträchtigung konfrontiert wird, und wie Paare am besten mit dieser Situation umgehen können, wurden 115 Paare aus der Schweiz, Deutschland und Österreich befragt. Das Psychologische Institut der Universität Zürich (Team von Prof. Dr. Guy Bodenmann) und die Haute Ecole de Travail Social e de la Santé in Lausanne (Team von Prof. Dr. Nicolas Kühne) haben dazu die Studie SELODY, Sensory Loss in Dyadic context realisiert. Das Projekt wurde durch den SZBLIND, verschiedene Mitgliedsorganisationen, Stiftungen und vom Eidgenössischen Büro für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderung EBGB finanziert. Fachlich stand dem SZBLIND eine engagierte Expertinnen- und Expertengruppe zu Seite, die in der Mehrzahl aus selbst betroffenen Fachpersonen bestand.

Die Ergebnisse der umfangreichen Untersuchungen zeigen, dass sehr viele Paare sehr resistent sind und die Mehrheit der direkt durch Sehbeeinträchtigung, oder indirekt (eben durch die Beziehung) betroffenen Personen psychisch nicht stärker belastet ist, als Personen aus der Allgemeinbevölkerung ohne Sinnesbeeinträchtigungen. Dies erklärt sich unter anderem damit, dass bei den meisten untersuchten Paaren die Erfahrung von Sehproblemen schon einige Jahre vor dem Untersuchungszeitpunkt auftraten und sie dadurch bereits Zeit zur Anpassung an das Leben mit einer Sehbeeinträchtigung im Beziehungsalltag hatten. Das Forschungsdesign schloss Paare, deren Beziehung keinen Fortbestand hatte, von der Untersuchung aus, da die Bereitschaft getrennter Paare, an Studien teilzunehmen erfahrungsgemäss sehr gering ist und nur eine Langfrist-Studie hier entsprechende Ergebnisse hätte liefern können.

Die gute psychische Stabilität der untersuchten Paare bedeutet jedoch nicht, dass es keine durch die Sehprobleme verschärften und speziellen Herausforderungen gäbe oder in der Vergangenheit gegeben hat. Die Paare berichteten insbesondere über folgende erlebte Schwierigkeiten:

  • Viele alltägliche Aktivitäten wie Kochen, Putzen, Einkaufen, benötigen nach einem gewissen Grad an Sehverlust mehr Zeit, was Frust bei beiden Personen auslösen kann.
  • Der (teilweise) Verlust des Sehvermögens erfordert vielfältige Anpassungen von Rollen und damit einhergehenden Aufgabenverteilungen, welche immer wieder neu ausgehandelt werden müssen. Meinungsverschiedenheiten über diese Aufgabenverteilung stellen daher eine häufig genannte Stressquelle dar.
  • Die Sehbeeinträchtigung schränkt die Möglichkeiten der Paare zu gemeinsamen Aktivitäten ein, beispielsweise Sport, kulturelle Aktivitäten oder Urlaube. Dadurch können Paaren Möglichkeiten für gemeinsame positive Erlebnisse entgehen oder es müssen neue gemeinsame Hobbies gefunden werden, um weiterhin ein gemeinsames Erleben sicherzustellen.
  • Das verringerte Tempo und der erhöhte Ruhebedarf der Person mit einer Sehbehinderung schränken die Teilhabe des Paares, also auch der sehenden  Partnerin oder des Partners, an geselligen Anlässen ein.
  • Das Erleben von Betroffenen und ihren Lebenspartnerinnen bzw. Lebenspartnern unterscheidet sich teilweise stark und das gegenseitige Verständnis ist erschwert. Viele Paare distanzieren sich deshalb zwischenzeitlich voneinander.

Die Sehbeeinträchtigung kann also direkt oder indirekt Stress in der Beziehung auslösen. Langfristig anhaltender Stress untergräbt die Partnerschaft. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass insbesondere die Zeit nach grösseren Veränderungen des Sehvermögens, meist im Sinne einer Verschlechterung des Sehens oder einer zusätzlich auftretenden Schwerhörigkeit, für Paare eine verletzliche Phase darstellt: Das Risiko für Belastung und Überlastung ist dann besonders hoch.

Paar-Identität und gemeinsame Aktivitäten

Die Ergebnisse aus der SELODY-Studie sind sehr reichhaltig und vielfältig. Für weiterführende Einsichten verweisen wir an dieser Stelle auf das beiliegende Fachheft sowie die Broschüre für Paare und die Audio-Podcasts, die jeweils wichtige Aspekte der Studie beleuchten.

Selody thematisiert die so genannte Paar-Identität, die Organisation und Abstimmung der Aktivitäten eines Paares, die übliche gegenseitige Schonung zwischen den Partnern und die negativen Folgen, die das haben kann. Weitere Themen sind der Rückzug und das Zurückhalten von Gedanken und Gefühlen, um Belastungen oder Konflikte zu vermeiden. Vor allem die sehenden Lebenspartnerinnen und Lebenspartner laufen hier grosse Gefahr, sich selbst zu stark zurückzunehmen und ihre eigenen Interessen zu vernachlässigen.

SELODY weist mit Nachdruck darauf hin, dass eine gesundheitliche Beeinträchtigung wie eine Sehbeeinträchtigung immer beide Personen im Paar betrifft. Beide erleben Belastungen, beide bringen aber auch Ressourcen mit, um diese Belastungen zu bewältigen. Daher ist es sinnvoll, zusammenzuarbeiten, um einen Umgang mit der Sehbeeinträchtigung und ihren Folgen zu finden.

Ein weiteres Thema, das SELODY anspricht, ist das Ungleichgewicht in der praktischen gegenseitigen Unterstützung des Paares in Alltagsdingen. Der nicht von der Sehbehinderung betroffene Partner, oder die Partnerin übernehmen das Einkaufen, Kochen oder Putzen, da die Person mit Sehbehinderung in der Beziehung diese Aufgaben nur mit einem wesentlichen grösseren Zeitaufwand lösen kann. Auch wenn die Unterstützung vom Partner oder der Partnerin gerne geleistet wird, kann Unausgeglichenheit in der Unterstützung mit zunehmender Unzufriedenheit in der Beziehung einhergehen, da die meisten Menschen implizit eine ausgewogene Verteilung von Unterstützung als gerecht und optimal ansehen. Auch wenn die Unausgeglichenheit im Fall einer Sehbeeinträchtigung erklärbar ist, kann sie deshalb trotzdem die Beziehung belasten.

Schliesslich sprechen viele Paare auch davon, dass die Sehbeeinträchtigung sie «zusammengeschweisst» habe. Durch die Sehbeeinträchtigung entstand Druck, zusammenzuarbeiten und einen Weg zu finden, um mit den Auswirkungen der Sehbeeinträchtigung auf das gemeinsame Leben umzugehen. Dies wurde manchmal als positiv und lustvoll, manchmal aber auch als beschwerlich und grosse Herausforderung wahrgenommen. Während die gemeinsame Betroffenheit bei allen Paaren deutlich wurde, zeigte sich auch, dass jede Geschichte einzigartig ist. Fachpersonen auf den Beratungsstellen können Paare bei der Bewältigung des gemeinsamen Weges aktiv unterstützen. Der SZBLIND bietet den Organisationen der Selbsthilfe und den Fachpersonen der Beratungsstellen für erwachsene Menschen mit Sehbeeinträchtigung dazu mehrere Informationsmaterialien zur Verfügung und lädt zu einem Vorbereitungskurs zum Thema ein. Im beiliegenden Fachheft finden Sie auch die Bezugsquellen aller weiteren schriftlichen und akustischen Informationsmaterialien, so zum ersten Mal auch zwei Audiopodcasts.

Ganztägiger Workshop Info-Set SELODY

am 31.8.2022 Kirchgemeindehaus Neumünster, Zürich.

Wie kann die „Ressource Paarbeziehung“ im Beratungsalltag eingeführt werden? Ein praxisorientierter Kurs für Sozialarbeitende und Rehabilitationsfachpersonen sowie weitere interessierte Mitarbeitende von Beratungsstellen des Sehbehindertenwesens sowie weitere Fachpersonen, die in ihrem Berufsalltag mit Menschen mit Sehbeeinträchtigungen in Kontakt sind. Mit finanzieller Unterstützung des Eidgenössisches Büro für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen EBGB.

Kursleitung:
Autorin der SELODY-Studie, Psychologisches Institut der Universität Zürich

Anmeldung bis 1. Juli 2022 via szblind.ch