Alte Menschen wollen nicht auch noch behindert sein
Menschen, bei denen eine Sehbeeinträchtigung im Alter auftritt, nutzen die rehabilitativen Angebote des Sehbehindertenwesens zu wenig. Möglichkeiten, wie diese Menschen trotzdem angemessene Unterstützung in der Bewältigung der neuen Lebenssituation mit einer Sehbehinderung erhalten, zeigt Judith Wildi auf. Sie war zehn Jahre lang für das Kompetenzzentrum Seh- und Hörbehinderung im Alter (KSiA) tätig.
von Judith Wildi
Von einer Sehbehinderung betroffene alte Menschen weisen die Zuschreibung Behinderung von sich. «Ich bin nicht krank, ich bin nicht behindert, ich sehe nur nicht gut, aber das ist im Alter doch normal», war die am häufigsten anzutreffende Grundhaltung. Die Betroffenen finden oft ärztliche Abklärungen überflüssig («Das lohnt sich nicht mehr») und sehen sich in einer Beratungsstelle des Sehbehindertenwesens nicht am richtigen Ort («Ich bin ja nicht behindert»).
Verdrängen ist ein Motor für Negativspiralen
Was hindert alte Menschen daran, sich frühzeitig mit der neuen Situation auseinanderzusetzen und Unterstützung einzufordern? Einerseits dürfte der Mangel an Wissen in der Gesellschaft und auch bei Fachpersonen über das Vorhandensein und die Chancen der Angebote eine Rolle spielen. Andererseits wollen ältere und vor allem hochaltrige Menschen nicht zur Last fallen, sie schicken sich drein, wenn das Sehen abnimmt, der Alltag beschwerlich wird, die Selbständigkeit ins Wanken gerät. Sie verdrängen Veränderungen. Grundsätzlich ist das verständlich, Autonomie ist ein hohes Gut. Die Betroffenen sind sich jedoch nicht bewusst, dass sich eine Negativspirale zu drehen beginnt: Unterstützung abzulehnen, führt in der Regel zu Unsicherheit, Rückzug, sozialer Isolation, und nicht selten zu Unfällen, die einen Spitalaufenthalt zur Folge haben und zu einem Eintritt in eine Institution der Langzeitpflege führen können. Betroffene fühlen sich dann in ihrer Autonomie verletzt. Manche resignieren, manche ziehen sich zurück, andere werden bockig oder aggressiv.
Warum das Erkennen so schwer fällt
Eine Sehbehinderung bzw. eine Sehschädigung im Alter zu erkennen und diagnostizieren zu lassen, ist keine Selbstverständlichkeit. Die meisten Erkrankungen des Auges im Alter verlaufen chronisch. Die Veränderungen geschehen also schleichend und werden nicht im vollen Ausmass wahrgenommen. Plötzliche Veränderungen, wie ein schneller massiver Verlust des Sehvermögens, fallen auf.
Zudem ist es wichtig, neuroopthalmologische Besonderheiten bei Seheinschränkungen zu kennen. Die Plastizität des Gehirns ist eine tolle Sache, kann aber bei einer Sehschädigung zu verwirrenden Situationen führen. Bei langsam entstehenden Ausfällen wie der Altersabhängigen Makuladegeneration (AMD) nimmt die Person die Ausfälle nicht als Lücken im Gesichtsfeld wahr. Das Gehirn füllt die fehlenden Informationen mit vermuteten Inhalten aus, was der Person ein vollständiges Bild, aber in unscharfer und verblasster Qualität vermittelt: das Filling-in Phänomen. Im wahrsten Sinne des Wortes wird nicht gesehen (erkannt), was nicht gesehen wird. Die Tochter findet das gestohlen geglaubte Armband auf dem Nachttisch, wo es die betroffene Person nicht gesehen und die Reinigungsfrau beschuldigt hatte, es gestohlen zu haben. Solche Erlebnisse verunsichern und beschleunigen den Rückzug aus dem sozialen Leben.
Ein weiteres oft nicht bekanntes Phänomen ist das Charles-Bonnet-Syndrom (CBS). Das Gehirn kann infolge eines Mangels an visuellen Inputs Bildelemente wahrnehmen lassen, die für das Umfeld nicht sichtbar sind. Es belastet, wenn man von sich selbst oder anderen in der Folge als verwirrt, von einer beginnenden Demenz betroffen angesehen wird. Es ist jedoch mit einem visuellen Phantomschmerz vergleichbar und hat nichts mit einer psychiatrischen Erkrankung zu tun. Leider ist das CBS vielen medizinischen Fachpersonen nicht bekannt. In einem Kurs mit Mitarbeitenden einer Alterseinrichtung in Zürich wurde diesen bewusst, dass die Frau, die immer Chinesen in den Bäumen sah, nicht «achli gaga» war, sondern vermutlich ein Problem mit dem Sehen hat. Was für ein Unterschied in der Wahrnehmung der Person! Fatal ist: Viele Symptome einer Sehbehinderung sind deren einer Demenz zum Verwechseln ähnlich: Das Sozialverhalten verändert sich, Erinnerungsvermögen und Entscheidungsfähigkeit gehen verloren, die zeitliche, örtliche und persönliche Orientierung sind verändert, Selbstpflegefähigkeiten nehmen ab, Depression und Angst treten auf. Das Erkennen einer Sehschädigung ist aus diesem Grund enorm wichtig.
Das Fokus-Assessment unterstützt das Erkennen
Wahrzunehmen, ob eine ältere Person eine Sehschädigung hat, ist also gar nicht so einfach. Oft wollen die Betroffenen nicht «auf Vorrat» ärztliche Abklärungen vornehmen lassen. Deshalb hat KSiA ein Instrument entwickelt, das Pflegefachpersonen hilft, eine mögliche Einbusse des Sehvermögens zu quantifizieren: das Fokus-Assessment Sehbeeinträchtigung.
Zum Fokus-Assessment gehören die Erfassung allgemeiner Informationen, die Ermittlung des horizontalen und des vertikalen Gesichtsfeldes mittels Fingertest (s. Bild), die Erfassung des Vergrösserungsbedarfs mit Lesetexten und die Erfragung von Schwierigkeiten mit der Blendung und Erfahrungen mit Kontrasten. Die Auswertung eines mehrmonatigen Projektes mit Spitex- Mitarbeitenden hat ergeben, dass die systematische Durchführung von Fokus-Assessments viel bringen kann (Seifert et al., 2020).
Das Fokus-Assessment ersetzt nicht den Augenarztbesuch. Es gibt der Person eine Übersicht über die Situation und mögliche Gefahren, z.B. Stolpergefahren. Das Gespräch über die Resultate des Fokus-Assessments mit der betroffenen Person können diese motivieren, Angebote der Beratungsstellen des Sehbehindertenwesens und Hilfsmittel in Anspruch zu nehmen.
Unterstützung durch Fachpersonen
Nur sehr wenige Betroffene mit Sehbehinderung im Alter nutzen die Angebote der Beratungsstellen, wie sich in der Studie PROVIAGE zeigte (Seifert et al., 2023). Einerseits fehlt es an Wissen darüber, andererseits an Kontakten zwischen dem medizinischen Personal und den Beratungsstellen. Persönliche Kontakte helfen, Betroffene vom Nutzen der Angebote einer Beratungsstelle zu überzeugen.
Eine wichtige Ergänzung zu den Angeboten der Beratungsstellen sind stabilisierende und rehabilitative sehbehinderungsspezifische Pflegemassnahmen, die von Pflegefachpersonen durchgeführt werden können. Stabilisierende Massnahmen unterstützen die Betroffenen mittels einfacher Hilfsmittel, zum Beispiel Markierungspunkten, Alltagsverrichtungen zu vereinfachen. Sehr wirksam ist auch die Verbesserung der Beleuchtung mit individuellen Lichtquellen.
Zur rehabilitativen sehbehinderungsspezifischen Pflege und Betreuung gehören kognitiv emotionale Pflegetrainings, die resignierten, zurückgezogenen Betroffenen Mut zusprechen: Es kann sich etwas verändern, Lernen ist auch im hohen Alter möglich und es gibt geeignete Angebote und Hilfsmittel. Es ist dabei hilfreich, ihnen gegenüber nicht von einer Behinderung zu sprechen, sondern die Begriffe Seheinschränkung oder Sehproblem zu verwenden.
Motorische oder funktionale Pflegetrainings dienen dazu, die Betroffenen wieder zu befähigen, Dinge selbst zu tun. Die Entscheidung, was sie lernen möchten und wo sie gerne Hilfe in Anspruch nehmen, liegt bei ihnen. Die Rehabilitationsfächer des Sehbehindertenwesens, Lebenspraktische Fähigkeiten, Orientierung und Mobilität und Low Vision bieten eine Vielzahl von Angeboten dafür.
Ganz wichtig ist es, immer wieder darauf hinzuweisen, dass Hilfsmittel nicht einfach angeschafft, sondern durch die Beratungsstellen vorgestellt und instruiert werden sollen. Je früher sich jemand mit einem Hilfsmittel vertraut macht, desto besser: Sehend lernen ist einfacher als mit einer fortgeschrittenen Einschränkung. Die Bereitschaft zu diesem Schritt braucht oft Unterstützung.
Sie tut es
Ein Beispiel aus dem privaten Umfeld: Sensibilisiert durch die Erkrankung von beiden Elternteilen, reagiert eine Freundin frühzeitig auf die Veränderung ihres Sehvermögens und holt sich Beratung und Austausch. Sie ist bereit, sich mit den zu erwartenden Folgen auseinanderzusetzen und will selber bestimmen, was sie zu welchem Zeitpunkt anschauen will. Sie könnte im wahrsten Sinne des Wortes die Augen verschliessen und – solange es möglich ist – alles tun und geniessen und das Kommende auf später verschieben. Aber sie macht es anders: Sie geniesst und näht und passt bereits jetzt ihre Umgebung an, mit unterstützenden Hilfsmitteln (zum Beispiel besseren Lichtquellen). Sie entscheidet, wann sie was von wem möchte. Selbstbestimmt leben heisst nicht, alles selber tun zu müssen, sondern heisst, informiert Entscheidungen zu treffen und zu bestimmen, was ich selber tun will und wo ich von wem Hilfe beanspruche.
Damit sind wir wieder beim Anliegen dieses Beitrags: die Chancen eines frühzeitigen Handelns zu betonen und auf die Tücken und Gefahren des Verdrängens hinzuweisen. Auch mit einer Sehbehinderung im Alter kann das Leben bunt und lebenswert sein.
Autorin:
Judith Wildi, Pflegefachfrau FH, Berufspädagogik, MAS Soziale Gerontologie, Gründungs- und Teammitglied bei KSiA bis 2021, Mitarbeit in der Fachentwicklung und Verantwortliche für Schulungen und Kurse.
KSiA, das Kompetenzzentrum für Seh- und Hörbehinderung im Alter, hat 2021 seine Projekttätigkeit eingestellt. Die Arbeitsergebnisse stehen kostenlos auf der Website www.ksia.ch zur Verfügung: Arbeitsmaterialien, Kursunterlagen, Projektberichte und Literaturhinweise
Literaturhinweise:
www.ksia.ch
Heussler, F., Wildi, J. & Seibl, M. 2016. Menschen mit Sehbehinderung in Alterseinrichtungen – Gerontagogik und gerontagogische Pflege – Empfehlungen zur Inklusion. Zürich, Seismo.
Bericht Seifert et al. (2020). Sehbehinderung im Alter im Pflegekontext: Langzeituntersuchung der Wirkungen der KSiA-Schulungen im Rahmen der Projekte ALESI und Spitex-SiA zu Sehbehinderungen im Alter. Zentrum für Gerontologie, Universität Zürich & KSiA. https://ksia.ch/onair/pdf/ Kurzbericht_KSiA_ZfG_2020.pdf
Fokus-Assessment: Anleitung und Unterlagen auf https://ksia.ch/onair/materialien/fachpraxis/pflege_ betreuung/ einsehbar