Antoine Gliksohn ist 15 Jahre alt, als seine Familie per Zufall auf die franzö­sische Selbsthilfegruppe für Menschen mit Albinismus «Genespoir» aufmerk­sam wird. Für ihn und seine zwei ebenfalls von Albinismus betroffenen ­Geschwister beginnt eine neue Zeit der Begegnungen mit Menschen, die ihre Situation verstehen.

von Nina Hug

«Vor allem Kinder können untereinander recht grausam sein und ausgrenzen», sagt der heute 37-Jährige. Aufgrund der weissen Haut und Haare und der zusätzlichen Sehbehinderung seien Kinder mit Albinismus oft einsam und ausgegrenzt. «Albinismus ist ein Stigma», erklärt Antoine Gliksohn. Zwar würden Menschen mit Albinismus in Europa grösstenteils nicht wirklich diskriminiert, aber ­soziale Integration und Identitätsfragen sind Pro­bleme, mit denen viele Betroffene konfrontiert sind. «Ich muss mich immer ein bisschen anpassen an die Gesellschaft, die für Menschen ohne Einschränkungen gemacht ist. Obwohl ich keine schwere Behinderung habe, ist es doch anstrengend und manchmal ermüdend», sagt er. Der Kontakt zu Genespoir entstand zufällig, als seine Familie eine andere Familie mit einem Kind mit Albinismus am Strand traf und sie ins Gespräch kamen. «Ich habe Genespoir eigentlich ein wenig spät für mich entdeckt. Ich war bereits 15 Jahre alt und hatte die schwierige Phase der Frage nach Identität und der Auseinandersetzung mit dem Anderssein grösstenteils schon hinter mir. Weil mir eine Organisation wie Genespoir dabei selber sehr geholfen hätte, habe ich mich sofort dort angeschlossen», sagt er.

Vernetzung auf europäischer Ebene

Seit 10 Jahren engagiert er sich bei der Selbsthilfe in Frankreich. Rasch stellte Antoine fest, dass es auf europäischer Ebene keine Vernetzung zwischen einzelnen Gruppen gab. So gründete er die Organi­sation Albinism Europe, die erreichen will, dass ­Menschen mit Albinismus überall in Europa Selbsthilfegruppen finden, die ihnen mit Rat und Tat zur Seite stehen. Albinism Europe versucht in Kontakt zu kommen mit betroffenen Menschen in Ländern, in denen noch keine Selbsthilfegruppen existieren und möchte die Gründung solcher Gruppen anregen.

Bedürfnisse variieren stark

Gemeinsam mit IK Ero, unabhängiger Experte der UN für Fragen zu Albinismus, und Mike McGowan, ehemaliger Direktor von NOAH, der Selbsthilfeorganisation von Menschen mit Albinismus in den USA, Nordamerika und Kanada, strebt Antoine an, eine weltweite Dachorganisation für Albinismus Selbsthilfegruppen zu schaffen.
«Dieses Ziel zu erreichen, ist nicht einfach», erklärt Antoine. «Die Bedürfnisse der Betroffenen variieren, abhängig davon, wo sie leben. «Stigmatisierung ist in Europa ein grösseres ­Thema als Diskriminierung», macht Antoine deutlich. «Menschen mit Albinismus in Afrika befinden sich hingegen zum Teil in lebensbedrohlicher Lage», erzählt der Gründer von Albinism Europe.
Selbsthilfegruppen in Afrika oder Selbsthilfegruppen afrikanisch-stämmiger Menschen in ­Europa hätten deshalb ganz andere Themen als Gruppen europäischer Menschen mit Albnismus und es sei schwer, einen gemeinsamen Nenner zu finden. Oft gehe es für afrikanische Menschen mit Albinismus, die in ­Europa Asyl gefunden haben, um die Behandlung von Traumata, die nicht überwunden seien. In Europa gehe es neben der sozialen Integration und Identitätsfindung eher um Zugang zu ­Gesundheitsversorgung und Bildung – je nach Entwicklungsstand der Länder in unterschiedlichem Ausmass.

Die Situation in der Schweiz

In der Deutschschweiz existiert keine Selbsthilfegruppe für Menschen mit Albinismus. Die westschweizer Gruppe Solidarité Albinisme Suisse möchte vor allem Menschen mit Albinismus in Afirka helfen. Betroffene Menschen, die sich austauschen möchten, nehmen deshalb Kontakt auf zu den Organisationen der Nachbarländer – Genespoir in Frankreich und NOAH Albinismus Selbsthilfegruppe e.V. in Deutschland.
Tamara Nigg zum Beispiel wendete sich an NOAH in Deutschland, als ihr mittlerweile dreijähriger Sohn Lars mit Albinismus auf die Welt kam. Da weder sie noch ihr Mann Albinismus haben, waren sie erschrocken und ratlos ob der Diagnose des Gendefekts. Über NOAH und die Blindenschule Zollikofen sammelte sie Informationen. Welche Einschränkungen sind zu erwarten? ­Welche Augen­ärzte können weiterhelfen und gibt es spezialisierte Dermatologen? Die an­fängliche Aufregung löste sich dank der Unterstützung aus Deutschland und von der Blinden­schule Zollikofen auf. «Alle vier Wochen kommt nun eine Person der Frühförderung zu uns nach Hause und wir ­haben in Bern eine tolle Orth­opitk, die Lars mit für ihn angepassten Brillen versorgt», erklärt Tamara Nigg. Eine Selbsthilfegruppe in der Schweiz würde sie begrüssen.

Uschi Schüller erfuhr keine Unterstützung, wie sie der kleine Lars Nigg nun erfährt. In den Fünfzigerjahren eingeschult, galt es damals eher, nicht aufzufallen. Sie lernte, sich «durchzuwurschteln». «Meine Eltern haben wohl nie geahnt, wie schwierig es für mich war, dem Unterricht zu folgen, ohne Hilfsmittel und eine Zugabe von Prüfungszeiten». Dennoch hat sie ihren Weg gemeistert. Als sie die Organi­sation NOAH in den USA kennen lernte, war sie bereits über 40 Jahre alt und beruflich als ­­Still- und ­Erziehungsberaterin sehr engagiert. «Eine konkrete Hilfe brauchte ich zu dem Zeitpunkt nicht. Aber ich fand es interessant, mehr über die medizinischen Grundlagen von Albinismus zu erfahren. Ausserdem hat mich ­interessiert, ob im Alter besondere Auswirkungen von Albinismus zu erwarten sind». Heute ist Uschi Schüller zurück in der Schweiz und bei NOAH in Deutschland dabei. «Das ­Wissen, dass man nicht alleine ist und andere mit den gleichen Herausforderungen konfrontiert sind, finde ich beruhigend.» Eigentlich habe sie darum auch in der Schweiz eine Selbsthilfe aufbauen wollen, aber es fand sich nie die Zeit. Vielleicht ist diese ja jetzt gekommen. Das Interesse von Uschi Schüller, das medizinische Wissen über Albinismus zu verbessern und zu verbreiten ist auch das Anliegen von Antoine Gliksohn und Albinism Europe. Er und seine Unterstützer haben Faktenblätter zusammengestellt und arbeiten mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern zusammen, um die Statistiken zur Zahl von Menschen mit Albinismus zu verifizieren.


Mehr Informationen auf www.albi­nism.eu