Anfang Dezember wird das neue Schweizerische Blindenmuseum ­«anders sehen» in Zollikofen eröffnet. In einem filigranen Holzpavillon wird die ­Geschichte und Gegenwart der Blinden- und Sehbehindertenpädagogik sinnlich erfahrbar gemacht.

von Andrea Eschbach, SZBLIND

Noch wird hier geschraubt und gehämmert, eingerichtet und feinjustiert: Anfang Dezember eröffnet das Schweizerische Blindenmuseum «anders sehen» in einem Neubau auf dem Gelände der Blindenschule Zollikofen seine Tore. Damit findet die Geschichte der Blindenpädagogik eine neue Heimat: Die Ausstellung «anders sehen» wurde bereits 2012 in einem temporären Bau eröffnet. Sie basiert auf der Sammlung von Dr. h.c. Theodor Staub (1864–1960), der das schweizerische Blindenmuseum gegründet hatte und dessen Sammlung im Jahr 1961 an die Blindenschule ­Zollikofen ­überging. 

Die Ausstellung wurde im Laufe der Jahre in Richtung Informations- und Beratungszentrum erweitert und aktualisiert, was zu einer deutlichen ­Attraktivitätssteigerung führte. Es wurden zahlreiche Workshops und Sensibilisierungskurse durchgeführt, die auf ein reges Interesse stiessen. Rund 1000 Besucherinnen und Besucher pro Jahr weist das Museum mittlerweile auf. Weil der alte Pavillon die Bauvorschriften nicht mehr erfüllte, konnte er nur noch bis Ende 2019 betrieben ­werden. Daher wurde im Rahmen der Gesamtplanung der Blindenschule ein Ersatzbau mit einer Gesamtfläche von 330 Quadratmetern vorgesehen. Die Finanzierung des Baus wurde mit einer separaten Spendenkampagne gesichert. 

Ein filigraner Bau in Schwedenrot

Die Blindenschule vergab den Auftrag des Ersatzbaus an Rolf Mühlethaler. Das Berner Architekturbüro hat bereits Erfahrung im barrierefreien ­Bauen für sehbeeinträchtigte Menschen, hat es doch schon 2019 den Neubau für Wohngruppen der Blindenschule realisiert. Auf dem leicht ab­fallenden Gelände der ehemaligen Schäferei, am hinteren Ende des Schulareals, leuchtet nun in Schwedenrot ein eingeschossiger Holzbau, der leicht in der Landschaft zu schweben scheint. Er fügt sich bestens in das Gebäudeensemble der Blindenschule ein. «Wir haben uns für einen fili­granen pavillonartigen Bau in Elementbauweise entschieden», sagt Architektin Marion Heinzmann. Der Bau liegt auf mehreren Punktfundamenten aus Beton, auf denen Primärträger aus Weisstannenholz die tragende Struktur für die vorgefertigten Wand- und Deckenelemente bilden. Licht ins Innere bringt ein Fensterband im oberen Wandbereich, welches die Wände frei lässt für die Ausstellung, aber dennoch eine gute Ausleuchtung der Räume gewährleistet.
Über eine offene Vorhalle gelangen die Besucherinnen und Besucher in die Ausstellungsräume. Vier identisch grosse Räume ordnen sich windmühlenartig um einen zentralen Serviceblock mit Technik, Toiletten und Teeküche an. Besuchende betreten vom Foyer her, in einem Kreis gegen den Uhrzeigersinn, einen Ausstellungsraum nach dem anderen. Der Empfangsbereich mit Garderobe, Abstellfächern und einem kleinen Museumsshop ist ganz in Grau gehalten. «Das monochrome Grau als Kontrast zur farbigen Welt draussen lässt uns das Gefühl der Wahrnehmungsveränderung direkt erleben», erklärt Silvia Brüllhardt, Projektleiterin «anders sehen». «Schliesslich gehen Sehbeeinträchtigungen oft mit einer veränderten Farbwahrnehmung einher.» So steht die Selbst­erfahrung der Besuchenden gleich am Anfang. Dies ist Teil des Ausstellungskonzepts, das gemeinsam mit dem Basler Szenografiebüro ZMIK und dem Kurator Andreas Schwab entwickelt wurde. «Die Ausstellung will ein Lernort sein, der nicht nur Wissen, sondern auch sinnliche Erlebnisse und praktische Erfahrungen vermittelt», sagt Silvia Brüllhardt. Die Ausstellung richtet sich an Fachpersonal, Lernende, Studierende, Selbstbetroffene wie Angehörige, aber auch an die breite Öffentlichkeit. Ausserdem sollen künftig Praktikumsplätze für blinde und sehbehinderte Menschen angeboten werden.

Sechs Videoporträts von betroffenen Personen eröffnen die Ausstellung: Blinde und sehbehinderte Personen im Alter von 13 bis 80 Jahren gewähren berührende Einblicke in ihren Alltag. Danach führt der Weg in den zweiten Raum, den Dunkelraum mit Klanginstallation und Tasterlebnis. Ein Hörspiel begleitet eine Schülerin vom ­Aufstehen am Morgen über den alltäglichen Schulweg bis zur Ankunft im Klassenzimmer der Blindenschule. Im diffus beleuchteten Raum geht es anschliessend weiter zu den Taststationen.

Ein Ort für eine schweizweit einzigartige Sammlung

Der dritte Raum – das Herzstück des Museums –­ erschliesst multimedial die Entwicklung von 200 Jahren Blindenpädagogik anhand ausgewählter Ausstellungsobjekte. Diese sind berührbar und somit auch für blinde und sehbehinderte Menschen zugänglich. Die Dauerausstellung ist in sechs ­Themenblöcke gegliedert: Brailleschrift, taktile Ver­anschaulichung, alltägliches Leben, Berufswelt, digitale Entwicklung und die Geschichte der Blindenschule Zollikofen. Ein Zeitstrahl an ­einer Wand zeigt die Meilensteine der Blinden­pädagogik in Bezug gesetzt zu Ereignissen der Weltgeschichte. In diesem Raum sind Objekte aus 200 Jahren ­Blindenpädagogik zusammengetragen worden – vom alten Stenogerät für blinde Menschen über Braille-Schreibmaschinen bis zum tastbaren Globus und der sprechenden Waage. Es findet sich auch Kurioses darunter, so eine Rinder­ohrmarke in ­Brailleschrift. Die Ausstellungsgegenstände stammen aus der Sammlung des Blindenmuseums, die rund 1000 Exponate vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart umfasst. ­Alles darf hier berührt werden: «Der inklusive Gedanke war uns sehr wichtig», sagt Silvia Brüllhardt. «Es soll ein Museum zum Anfassen sein.» Dazu trägt auch eine Leitlinie mit Handlauf zur Orientierung für Menschen mit Beeinträchtigungen bei. Die Ausstellung soll für alle Besucherinnen und Besucher möglichst hindernisfrei zugänglich sein. So ist sie nicht nur rollstuhlgängig, auch ein Mediaguide bietet erleichterte Zugänge in vier verschiedenen Programmen: Blindheit, Sehbehinderung, Hörbehinderung und Leichte Sprache. Der allgemeine Rundgang steht in den Sprachen Deutsch, Französisch und Englisch zur Verfügung. Zu den in der Dauerausstellung aufgeführten Themen stehen primäre Informationen bereit. Diese können jeweils vertieft werden mit zusätzlichen Informationen, Film- und Audioausschnitten. Der Mediaguide ermöglicht blinden und sehbehinderten Menschen gleichzeitiges Tasten der Objekte und Hören der dazugehörigen Information. Mittels eines Beacons (Sender) wird beim Mediaguide ein Signal ausgelöst, welches anzeigt, wo sich die Hauptthemen befinden und wie durch den Raum navigiert werden muss. Die selbstständige Orientierung im Museum ist so gewährleistet.
Im vierten und letzten Raum schliesslich können die verschiedenen Themen an Workshop-Tischen durch Selbsterfahrung und Visualisierung von Herausforderungen vertieft werden. So können Besucherinnen und Besucher am Schrägpult mit einer Simulationsbrille arbeiten oder die Brailleschrift erproben. Hier hat auch die Sonderausstellung ihren Platz. Sie gibt Betroffenen – den Menschen aus den Videoporträts am Beginn des Rundgangs – mehr Raum, um Facetten ihres Lebens anhand von Gegenständen, die für sie wichtig sind, aufzuzeigen. Das können Alltagsgegenstände sein, Hilfsmittel oder ein lieb gewonnenes Souvenir. Die Geschichten zu diesen Dingen des Alltags ergeben ein Bild ihres persönlichen Lebens. So schliesst der Rundgang, wie er begonnen hatte – mit dem Einblick in die Welt betroffener Menschen.

www.blindenmuseum.ch