Sehbehinderung: Entwicklung in der Schweiz
Erläuterungen zum Anstieg der Zahl betroffener Menschen
Im Jahr 2012 gab der SZBLIND letztmals einen Bericht zur Entwicklung von Sehbehinderung und Blindheit in der Schweiz heraus. Seither hat der SZBLIND etliche Studien zur Situation blinder, sehbehinderter und taubblinder Menschen publiziert. Auf diesem Wissen aufbauend, und Zahlen der neuesten Studien aus dem Ausland heranziehend, erscheint nun eine neue Berechnung der Anzahl blinder, sehbehinderter und taubblinder Menschen. Das dieser Ausgabe beiliegende Fachheft erläutert die Gesamtzahl von 377 000 Menschen mit Sehbehinderung, Blindheit oder Hörsehbehinderung.
Von Stefan Spring, Verantwortlicher Forschung SZBLIND
Der SZBLIND hat durch seine Forschungstätigkeiten der letzten zehn Jahre einiges dazu beitragen können, das Ausmass der Phänomene Blindheit, Sehbehinderung und Hörsehbehinderung für die Schweiz auf Grund eines möglichst konsistenten, modernen Behinderungsverständnisses neu berechnen zu können. Demnach leben in der Schweiz rund 377 000 Personen mit Sehbehinderung, Blindheit, Hörsehbehinderung oder Taubblindheit. Die neue Publikation zur Entwicklung von Blindheit, Sehbehinderung und Hörsehbehinderung lädt dazu ein, sich nicht mit der simplen Gesamtzahl zufrieden zu geben, sondern einen Blick auf die Vielfalt der Situationen zu wagen. Zahlen erfüllen ihren Sinn erst, wenn wir verstehen, was sie uns sagen wollen. Von den zirka 377 000 betroffenen Personen sind etwa 50 000 blind, das heisst, sie können in den meisten täglichen Situationen kein Sehpotenzial nutzen. Der weit grösste Teil von Menschen mit Sehbehinderung nutzt, wenn es die äusseren Umstände erlauben, ein noch vorhandenes Sehvermögen.
Etwa 57 000 Personen leben gleichzeitig mit einer Hörbehinderung. Damit entsteht eine Situation, die Hörsehbehinderung genannt wird. Hörsehbehinderung muss als eigenständige Behinderungsform verstanden werden. Aus der eingeschränkten Möglichkeit, den Sehsinn durch den Hörsinn zu ergänzen (und umgekehrt), ergeben sich ganz neue und andere Herausforderungen, als wenn «nur» ein Sinn beeinträchtigt ist. Deshalb verlangt eine Hörsehbehinderung für betroffene Menschen und ihr Umfeld eine angemessene und spezialisierte Unterstützung. Dasselbe gilt auch, wenn eine Seh- oder eine Hörsehbeeinträchtigung ein Kind oder eine erwachsene Person mit einer geistigen Beeinträchtigung betrifft. Die Situation wird sehr komplex. Wir gehen davon aus, dass dies etwa 29 000 Personen betrifft.
Seh- und Hörsehbehinderungen im Lebensverlauf
1,5 Prozent der Kinder und Jugendlichen in den ersten 20 Lebensjahren sind sehbehindert, hörsehbehindert oder blind. Was als wenig erscheint, entspricht etwa 26 000 Kindern und Jugendlichen (für eine Übersicht über alle Zahlen, siehe Grafik auf der Folgeseite). Die Hörsehbehinderung ist in diesen frühen Jahren noch selten, man rechnet aber dennoch mit etwa 1700 hörsehbehinderten oder taubblinden Kindern und Jugendlichen. Auch die Blindheit ist statistisch gesehen eher selten, prägt aber das Leben von rund 3400 Personen unter 20 Jahren.
Im ersten Erwachsenenalter (20 bis 39 Jahre alte Personen) steigt die Anzahl der Menschen mit einer Seh- oder Hörsehbeeinträchtigung durch genetisch vorgegebene Entwicklungen, Erkrankungen oder Unfälle an. Für diese Menschen und ihr Umfeld ist die Beeinträchtigung eine neue Erfahrung mit vielseitigen Herausforderungen und Folgen. In der Gruppe der 40- bis 59-Jährigen nimmt die Anzahl betroffener Menschen weiter zu.
Insgesamt sind in dieser Altersgruppe rund 63 000 Personen betroffen, also etwa 2,5 Prozent der Bevölkerung. In der Altersklasse der 60- bis 79-Jährigen, also im sogenannten dritten Lebensabschnitt der symbolisch durch die Pensionierung markiert wird, sind fast 120 000 Menschen in der Schweiz betroffen (7,3 % der Gleichaltrigen). Rund 85 000 sind sehbehindert, 16 000 blind und 19 000 hörsehbehindert (5,2 %, 1 % und 1,1 % der Gleichaltrigen).
Das Leben in dieser meist sehr aktiv gestalteten Lebensphase wird durch diese Behinderungen abgebremst, was frustrierend ist. Der Weg zu einer Beratungsstelle und der Austausch in einer Selbsthilfeorganisation helfen, diese Herausforderungen besser zu meistern. Von den Menschen, die rund 80 Jahre oder älter sind, leben 28 Prozent bzw. 128 000 Personen mit einer Seh- oder Hörsehbehinderung, davon rund 17 000 als blinde und 28 000 als hörsehbehinderte Personen. Auch im höheren Alter ist das Sehvermögen sehr wichtig, wie die Studie COVIAGE (Coping with visual impairment in old age) und weitere speziell diesem Thema gewidmete Studien des SZBLIND darlegen können.
Weitere Zunahme von Sehbehinderungen in den nächsten Jahren
Blickt man auf die wahrscheinlichen demographischen und therapeutischen Entwicklungen der nächsten Jahre, muss von einer starken weiteren Erhöhung der Anzahl sehbehinderter Menschen ausgegangen werden: Demnach wird nach 2029 mit rund 500 000 und nach 2039 mit 600 000 betroffenen Personen gerechnet. Angesichts dieser Dimensionen der Phänomene Sehbehinderung, Blindheit, Hörsehbehinderung und Taubblindheit appelliert der SZBLIND insbesondere an die verantwortlichen Personen für Menschen, die mögliche Veränderungen im Seh-und Hörvermögen nicht selbst äussern und angehen können, einer möglichen Beeinträchtigung ihre volle Aufmerksamkeit zu schenken. Dies gilt insbesondere für die Verantwortlichen der Frühförderung, der Vorschulerziehung und der Schulen; für Institutionen und Betreuungs- und Pflegepersonen sowie Angehörige dieser Menschen. In bestimmten Situationen müssen Drittpersonen ihre Verantwortung übernehmen und spezifische Abklärungen sind vorzunehmen, damit Sehbehinderungen und Hörsehbehinderungen in all ihren Facetten erkannt werden können. Anders als bei anderen Behinderungsformen können die alltägliche Selbstständigkeit und Chancen für ein auch wirtschaftlich selbsttragendes Leben bei Sinnesbeeinträchtigungen in vielen Fällen sehr gut unterstützt und gefördert werden. Für den SZBLIND als Dachorganisation im Schweizerischen Sehbehindertenwesen leiten sich hieraus wichtige Aufgaben ab: Information und Sensibilisierung der Bevölkerung über die Lebensumstände sehbehinderter, blinder und hörsehbehinderter Menschen in allen Lebensphasen, Lobbying und das Einstehen für die Rechte der Menschen, die mit Sehbehinderung oder Hörsehbehinderung leben, Forschung und die Aus- und Weiterbildung von Fachkräften. Die neuen Zahlen zur Anzahl betroffener Menschen zeigen, dass der Einsatz für blinde, hörsehbehinderte und sehbehinderte Menschen – immerhin 4,4 Prozent der Bevölkerung – ein Gebot der Stunde ist.