Plattform: Hände voller Kunst
Wird Kunst taktil erfahrbar, können sich seh- und hörsehbehinderte Menschen ihre eigenen Bilder von den Werken machen. Im Museum ist Anfassen häufig nicht erlaubt. An der Skulpturen-Ausstellung Bad RagARTz durfte hingegen getastet und gefühlt werden.
Von Christine Müller
Lebt man mit hochgradigen Hör- und Seheinschränkungen wird Kunstgenuss zur Rarität. Audiodeskription von Kunstwerken ist eine schlaue Sache, jedoch oft eine mit zu hoher Sprechgeschwindigkeit oder minderer Artikulation, die die Kunst uns Spezialwahrnehmerinnen in meilenweiter Entfernung stehen lässt. Informative Begleitpersonen öffnen uns vielmals die Türe zur Kunstwelt.
In beiden Fällen verbleibt man jedoch blind vor dem ‚Nichts’ und ist zur selbstständigen Kunstreproduktion gezwungen. Hingegen das Ertasten von Objekten bringt diese in Leib und Seele. So freute ich mich sehr auf die Skulpturen-Ausstellung Bad RagARTz.
Via installierter Funkverbindung tönte in unseren Kunstneugierigen Ohren alsbald die laute und gut verständliche Stimme unserer Ausstellungsführerin, Erika. Erikas Hintergrundgeschichten der Werke, ihrer Künstler, sowie der Herstellungstechniken dienten einem kompakten Kunstverständnis.
Bei der ersten Skulpturengruppe strichen meine Fingerspitzen und Handinnenflächen eifrigst über Nasenrücken, Augenbrauen und markante Haarsträhnen, rollten wohlgeformten weiblichen Körperlinien auf und ab, sowie einer beleibten Männerfigur. So entstanden meine 3D Bilder, die mir das Zusammenspiel der Figuren entlarvte.
Für mich wirkten sie nackt, obwohl Erika etwas von erkennbaren Kleidern berichtet hatte. Meine Begleiterin verhalf mir mit der Information verschieden-strukturierter Steine zur Kleidervorstellung.
An der zweiten Skulpturenstelle modellierten mir Hände und Arme eine noch grössere, erhabenere Männergestalt. Zusätzlich schallte Erikas Stimme in meinem Ohr: von der Schöpfungsmotivation des Künstlers und in meine linke Hand wurde gelormt.
«STOP! Zuviel des guten!» Diese Sinnesüberreizung hatte ich zu beenden. Meine Hirnwindungen konnten sich keinen Reim mehr machen.
So legte ich mir eine Aufnahmestrategie zurecht: Zuerst Erikas Führerstimme lauschen, meine Tastergebnisse aufnehmen und dann mit gelormten Details zum vollkommenen inneren Bild gelangen.
Eine Künstlerin setzte den Lauf des Lebens und der Dinge mit einem quadratischen Rohr aus Bronze in Kurven und ecken in alle Richtungen liegend, um. Im freien Lauf meiner Hände erlebte ich sowohl die Spannungen als auch die harmonischen Veränderungen dieser Linien. Parallel baute ich geistig meine eigene Lebenslinie, die ich nicht ungern in meiner Wohnung hätte. Dass mein Kopf in eine spitze Lebensecke schlug, war das Erlebnis dennoch wert.
Geschichten, die aus Ertastetem, Erzähltem und geschürter Phantasie entstanden, erfreuten sehr. Spannung schenkte ebenso das erraten der verschiedenen Materialien durch Klopfen, Wärmeempfindungen, etc. Die Vielfalt aufgenommener Impulse erschuf Ideen und verdeutlichte innere Vorstellungen, sodass meine Blindheit kein hinderndes Thema mehr war. Die aufgeworfene Frage, «was ist Kunst?» regte noch lange meine verborgene Philosophenader an.
In meinen Händen nahm ich eine Menge Kunstwerke mit nach Hause, in meinem Geist neues Wissen von gegenwärtigen Kulturgedanken und in meinem Herzen die grosse Freude, ein Quäntchen Weltgeschehen wahrgenommen zu haben.
Kästchen
Kunst zum Anfassen – einzelne Museen bieten solche Möglichkeiten zum Teil gekoppelt mit Angeboten speziell für seh-, hörsehbehinderte und blinde Menschen.
Das Zentrum Paul Klee organisiert mehrmals pro Jahr spezielle Führungen, bei denen Kunstwerke mit geeigneten Hilfsmitteln sinnlich erfahrbar gemacht werden (z.B. mit Tastreliefs oder Quellkopien). Ausserdem verfügt das Museum über Texte in Grossschrift zu den aktuellen Ausstellungen. Audioguides zur Ausstellung werden auf externen Speicherkarten zur Verfügung gestellt und können mit dem eigenen Milestone verwendet werden. Für hörbehinderte Menschen stehen auch Induktionsschleifen zur Verfügung. Auf Wunsch kann auch eine Begleitung durch die Ausstellung organisiert werden. Hierfür muss man sich zwei Wochen vor dem Besuch anmelden. www.zpk.org/de
Die Musikinstrumentensammlung Willisau vereint zwei Sammlungen von Musikinstrumenten. Eine Sammlung historischer Instrumente und eine Sammlung nachgebauter Instrumente aus Mittelalter und Renaissance aber auch der Gegenwart. iPods mit über 70 Klangbeispielen und Museumsführer mit näheren Erläuterungen zu einzelnen Instrumenten stehen zur Verfügung. Verschiedenste Instrumente können selber ausprobiert werden. www.musikinstrumentensammlung.ch
Das Verkehrshaus Luzern bietet zwar keine Audioguides. Mit einem privaten Begleiter können aber viele Exponate, insbesondere die historischen Verkehrsmittel ertastet und berührt werden. Führ- und Assistenzhunde sind erlaubt. www.verkehrshaus.ch
Im Textilmuseum St. Gallen sind in der Ausstellung „Vision“ jeweils die Highlights der aktuellen Mode-Kollektionen ausgestellt. Die Exponate dieser Ausstellung können ertastet werden. Auch in der Ausstellung zur Historie der St Galler Textilindustrie können Exponate ertastet werden. Ein Audioguide steht leider nicht zur Verfügung.