Gezielte Weiterbildungen und genaues Beobachten des Pflegepersonals helfen, Sehbehinderungen der Klientinnen und Klienten zu erkennen.

Jeder dritte Senior und jede dritte Seniorin, die von der Spitex gepflegt wird, leidet unter einer Seh- oder Hörbeeinträchtigung. Bei 11% der von der mobilen Pflege versorgten Klientinnen und Klienten liegt gar eine Hör- und Sehbehinderung vor. Das zeigen die vom SZBLIND und der Q-Sys AG ausgewerteten Daten des Resident Assessment Instrument (RAI). Für die Betroffenen wird es schwierig, die Pflegenden und andere Bewohner an ihrem Gesicht zu erkennen, sich in den Räumen und mit Gegenständen zurechtfinden, für sich selbst zu sorgen. Eine an diese Situation angepasste Pflege ist nötig. Conny Spiess, Leiterin der Spitex Wehntal und Fatima Heussler, Leiterin des Kompetenzzentrums für Sehbehinderung im Alter, zeigen auf, was das konkret bedeutet.

Indirektes Licht am Spiegel verhindert Blendung. Das Haare kämmen geht so besser.

Die Zahlen der SZBLIND Studie zum RAI Assessment haben Conny Spiess nicht überrascht. „In unserer Arbeit erleben wir tatsächlich bei jedem dritten Klienten eine Hör- oder Sehbehinderung“, sagt sie. Ob diese allerdings schon im ersten Abklärungsgespräch mit Hilfe des RAI-Fragebogens erfasst werde, sei nicht sicher, auch wenn der Klient oder die Klientin schon mittelschwere bis schwere Einschränkungen im Hören und Sehen erlebe. „Personen, bei denen eine schleichende Verschlechterung des Hörens und Sehens auftritt, nehmen diese Entwicklung häufig hin oder können den Seh- oder Hörverlust nicht einordnen“, sagt Conny Spiess. Und auch Fatima Heussler bestätigt: „Wenn die Personen irgendeinen (funktionalen oder dysfunktionalen) Umgang mit der Sehbehinderung gefunden haben, ist es schwer die Sehbehinderung zu erkennen und die Pflege daraufhin anzupassen.“

Sehschädigung hat viele Auswirkungen

Wie wichtig es für die Pflege ist, von einer Sehbehinderung der Klientin oder des Klienten zu wissen, lässt sich ermessen, wenn man bedenkt, welche Auswirkungen eine Sehschädigung auf ganz viele Pflegesituationen haben kann: Kreislauf- und Verdauungsprobleme treten auf, weil sich die Personen nicht mehr trauen, sich zu bewegen. Schlafstörungen können die Folge von reduzierter Lichtwahrnehmung sein. Die Körperpflege ist nicht mehr gut möglich, wenn die Haut, das Gesicht etc. nur noch verschwommen gesehen werden. Anzeichen von Verwahrlosung können auftreten, wenn die Person ständig fleckige Kleider hat, beim Essen und Trinken kleckert.

Wird als Ursache eine Sehbehinderung erkannt, dann lassen sich mit auf die Sehbehinderung ausgerichteten Massnahmen Wirkungen auf allen Ebenen erzielen. „Wenn die Pflege erreicht, dass die Person sich wieder zutraut, sich zu bewegen, können sich unter Umständen Verdauungs- und Kreislaufprobleme lösen.“, sagt Fatima Heussler.

Um diese „versteckten Fälle“ zu entdecken, baut die Spitex Wehntal stark auf den Austausch von Informationen und Beobachtungen im Team. „Hat eine Pflegeperson den Verdacht, dass jemand nicht gut hört oder sieht, geht diese Information in unsere Teamsitzung. Dann werden die anderen Betreuungspersonen, die mit der Klientin oder dem Klienten in Kontakt sind nach ihren Eindrücken gefragt. Jede Pflegende und jede Haushaltshilfe oder Reinigungskraft ist dazu angehalten, ihre Beobachtungen mitzuteilenund muss über eine vorhandene Beeinträchtigung informiert werden“, empfiehlt Conny Spiess das Vorgehen bei Unsicherheit über eine vorliegende Sehbehinderung.

Demenz und Sehbehinderung unterscheiden

Ebenfalls ein Fallstrick für eine angepasste Pflege ist die Verwechslungsgefahr zwischen Demenz und Seh- oder Hörsehbeeinträchtigung. Fatima Heussler erläutert warum: „Zur Beurteilung von Demenz werden drei Dimensionen herangezogen: zeitliche Orientierung, örtliche Orientierung und die psychosoziale und kognitive Orientierung . Von einer Sehbehinderung können alle drei Dimensionen betroffen sein: Die zeitliche Dimension, weil die Person den Tag-Nacht-Rhythmus verloren hat. Die örtliche Dimension, weil die räumliche Orientierung fehlt, die psychosoziale und kognitive Dimension, weil die Person etwa visuelle Halluzinationen (Charles-Bonnet-Syndrom) hat und z.B. Löcher im Boden sieht, wo keine sind oder weil ihr die soziale Orientierung fehlt und sie womöglich unangemessene Antworten gibt oder Fehlentscheidungen trifft.“ Um diese Phänomene von einer Demenz zu unterscheiden, brauche es sehr spezifisches Wissen. Eine reine Sensibilisierung für das Thema Sehbehinderung im Alter reiche nicht aus.

Conny Spiess sind die Konsequenzen von Fehleinschätzungen im Zusammenhang mit Hör- Sehbehinderung aus der täglichen Arbeit bekannt. „Einer Frau ist vorgeworfen worden, sie habe die Pflegerin schlagen wollen. Es stellte sich dann heraus, dass sich die fast blinde Frau nur mit einer Handbewegung dagegen gewehrt hat, dass man ihr ins Ohr gebrüllt hat. Das war für sie sehr unangenehm, denn sie hört noch sehr gut.“

Über Sehprobleme reden ist unmöglich

Wenn betagte Personen die Sehbehinderung für sich nicht akzeptiert haben, ist es schwierig bis unmöglich über die Sehprobleme offen zu reden. Die betroffene Person zu fragen, was ihr helfen würde, bringt ebenso wenig. Denn: Die Betroffenen können sich gar nicht vorstellen, wie es wieder besser werden soll.

 

In Wehntal geht man darum auch sehr praktisch vor, um die Situation für die Betroffenen zu verbessern. „Einer Frau, die fast nichts mehr sieht, stelle ich mich immer mit Namen vor, denn sie erkennt mein Gesicht nicht. Ich muss auch immer alles, was ich brauche wieder an den gleichen Ort zurück stellen. Und ich kann einer sehbehinderten Person nicht den Auftrag geben, sie solle beobachten, ob das Bein am Abend anschwillt, wenn sie das gar nicht mehr sehen kann“, beschreibt Conny Spiess den Umgang mit einer Sehbehinderten Klientin.

Fatima Heussler geht in ihren Weiterbildungskursen für Pflegefachpersonen noch weiter und empfiehlt: „Man sollte immer mit ganz konkreten Massnahmen zur Erleichterung der Orientierung starten. Zum Beispiel können die Zahnpasta und die Gesichtscreme unterschiedlich taktil markiert werden, wenn ich merke, dass die Klientin die beiden häufig verwechselt. Oder der Kleiderschrank wird mit der Klientin so sortiert und markiert, dass sie sich wieder selbständig sorgfältig anziehen kann“. Diese Massnahmen müssten immer auf die Situation jedes einzelnen Klienten angepasst sein. „Merkt der Klient, die Klientin, dass die Massnahmen ihnen konkret helfen, stärkt das die Selbstwirksamkeitsüberzeugung und erleichtert fördert so die eigene Anerkennung der Sehbehinderung“, sagt Heussler. Dies sei ein wichtiger Schritt um sehbehinderungsspezifische Pflegeziele formulieren zu können.