Editorial
Als ich vor vielen Jahren mit dem Klavierspiel loslegte, beging ich den klassischen Anfängerfehler vieler Kinder: Mit gebeugtem Rücken starrte ich auf das Gewirr von schwarzen und weissen Tasten und versuchte mir, die Reihenfolge der Fingersätze genau einzuprägen. Ich lernte jedes Stück auswendig – aber war voll und ganz auf die Klaviatur fixiert. Als ich den Lehrer wechselte, schlug der neue Seiten an: Er befestigte einen Pappkarton über dem Klavierdeckel, um mir die Sicht auf die Tasten zu versperren. Der Hintergedanke war, dass ich nur auf diese Weise irgendwann «vom Blatt» spielen könnte, aber zuerst musste ich lernen, «blind» zu spielen. Eine ganz neue und aussergewöhnliche Erfahrung!
Seither gibt es kaum eine Gelegenheit, bei denen ich mich blinden oder stark sehbehinderten Menschen so sehr verbunden fühle wie beim gemeinsamen Musizieren – oder schon, wenn man gemeinsam Musik hört. Hier sind nun wirklich keine Grenzen zu überwinden und keine unterschiedlichen Erfahrungshorizonte zu nivellieren. In dieser Ausgabe von tactuel begleiten Sie sehbehinderte und blinde Menschen beim Opernbesuch mit Audiodeskription, erfahren Sie, wie man mit Hilfe der Braillenotation Musikstücke einstudiert oder was Musiktherapie bei mehrfachbehinderten Kindern und Jugendlichen bewirkt.
Ich wünsche Ihnen eine spannende Lektüre.
Ann-Katrin Gässlein, Redaktorin